Texte:Pandora und Prometheus

Aus club dialektik
Version vom 16. Dezember 2007, 20:17 Uhr von Stephan (Diskussion | Beiträge) (Pandora und Prometheus – die Geschlechterfrage in Irmtraud Morgners „Amanda“)

Wechseln zu: Navigation, Suche
Pandora und Prometheus - Die Geschlechterfrage ib Irmtraud Morgners "Amanda
von Uschi Siemens
Druck Version

0. Kommunikation der Geschlechter und Gehirnforschung

Frauen können nicht einparken, Männer können nicht zuhören. Frauen wollen alles, Männer wollen nur das Eine. Frauen wollen immer reden, Männer wollen immer zappen – um die Kommunikation zwischen den Geschlechtern scheint es schlecht bestellt zu sein. Die neueste Wissenschaft der Gehirnforschung hat dafür eine einfache Erklärung gefunden: männliche und weibliche Gehirne sind einfach unterschiedlich strukturiert. Ganz am Anfang der Menschheit sind durch die Arbeitsteilung, die unterschiedlichen Aufgaben von Frauen und Männern unsere Gehirne unterschiedliche strukturiert worden. Diese Struktur hat sich seither nicht mehr verändert. Und wer glücklich werden will, sollte diese Tatsache einfach akzeptieren und nicht verlangen, dass Männer oder Frauen sich verändern. Dieser Erklärungsansatz ist verlockend, weil so bequem: man kann sowieso nichts ändern an der Struktur unserer Gehirne, also brauchen wir auch nicht über Veränderungen nachdenken. Ich möchte Euch heute einen anderen Erklärungsansatz vorstellen. Der ist zwar schon 20 Jahre alt, aber wie ich finde, immer noch sehr aktuell. Es geht um den Roman von Irmtraud Morgner, Amanda.



1. Vorbemerkung zu I. Morgner

* Geb. 22.8.1933 in Chemnitz
* Studiert in Leipzig Germanistik und Literaturwissenschaft, als 
  Redaktionsassistentin bei der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ 
  gearbeitet. 
* Lebt seit 1958 in Berlin als freie Schriftstellerin 

Ihr wichtigstes Werk, in dem sie sich besonders ausführlich mit dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen beschäftigt, ist die sogenannte „Salman-Trilogie“. Das sind drei Romane, der erste Band heißt „Leben und Abenteuer der Trobadora Beatiz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura“ und erscheint 1974. Der zweite Band mit dem Titel „Amanda. Ein Hexenroman“ erscheint 1983 und ist Gegenstand des heutigen Referats. Den dritten Band, der unter dem Titel „Das Heroische Testament“ 1998 erschienen ist, konnte Irmtraud Morgner leider nicht mehr fertig stellen, er ist nur ein Fragment. Irmtraud Morgner hat ihr ganzes Erwachsenen-Leben in der DDR verbracht. Sie starb im Mai 1990, kurz nach der sogenannten Wende.


2. Vorbemerkung zur DDR

Weil I. Morgner eine DDR-Autorin ist, möchte ich kurz etwas zur DDR sagen. Und zwar zu dem Aspekt, der für das heutige Thema besonders wichtig ist: die Förderung und gesellschaftliche Anerkennung der Berufsarbeit von Frauen durch die Regierung der DDR. Die DDR gründete ihre Gesellschaftspolitik auf die marxistische Theorie, in deren Zentrum die „Produktion der Lebensmittel“, also die Arbeit steht. Mit der „Produktion von Lebensmitteln“ fangen die Menschen selbst an, sich von den Tieren zu unterscheiden. Die Arbeit ist auch der Bereich, in dem die Menschen ihre Produktionsmittel immer weiter entwickeln und damit auch sich selbst. Dies ist die theoretische Begründung für die massenhafte Einbeziehung der Frauen in die Berufsarbeit; ein anderer Grund ist eher praktisch: bei der Gründung der DDR 1948 war drei Jahre nach dem 2. Weltkrieg fast alles zerstört und es herrschte ein eklatanter Mangel an Arbeitskräften.

Die DDR hat viele soziale, juristische und politische Maßnahmen ergriffen, um den Frauen den Zugang zur Berufstätigkeit zu ermöglichen und zu erleichtern. Diese Maßnahmen führten dazu, dass die DDR 1989 eine Frauenerwerbsquote von 82 Prozent hatte (Zum Vergleich: BRD 55 %), d.h. 82 % aller Frauen im berufstätigen Alter waren auch berufstätig. Das war der höchste Frauen-Beschäftigungsgrad der Welt.

Damit war eine neuen Situation entstanden mit neuen Bedingungen. Weibliche Berufstätigkeit war selbstverständlich geworden, Frauen waren materiell und ökonomisch unabhängig von Männern. Gleichzeitig blieben aber die alten Rollenbilder unverändert, patriarchale Herrschaftsmechanismen wurden nicht in Frage gestellt. Frauen stellten neue Ansprüche an Männer und Beziehungen. Diese neuen Ansprüche trafen auf wenig Verständnis oder Gegenliebe, weder bei den einzelnen Männern, noch beim Staat. Der patriarchale Staat zeigte sich dieser neuen Entwicklung gegenüber hilflos, ebenso wie die einzelnen Männer. Die DDR hatte neben dem höchsten Beschäftigungsgrad bei Frauen auch die höchste Scheidungsrate der Welt.

Besonders die Literatur der DDR spiegelt diese wirklichen Veränderungen und Konflikte wider. Es gibt fast keinen Roman aus der DDR, der sich nicht in der einen oder anderen Weise mit dem Geschlechterverhältnis unter den neuen Bedingungen beschäftigt. Einer dieser Romane soll heute hier Thema sein: der Roman von Irmtraud Morgner, „Amanda“. Der Roman ist in drei unterschiedliche Ebenen gegliedert, die ich genannt habe

1. die historisch-mythische Ebene, 
2. die Alltagsebene und 
3. die phantastische Ebene.

Zu allen drei Ebenen will ich jeweils kurz etwas sagen. Im Roman selber sind diese Ebenen nicht so klar voneinander getrennt, wie ich sie jetzt hier vorstelle. Das macht das Lesen manchmal etwas mühsam, aber vielleicht ist dieses Referat ja auch ein guter Einstieg ins Leseerlebnis.


1. Die historisch-mythische Ebene:

Auf dieser Ebene führt Irmtraud Morgner zunächst die Erzählerin des Romans ein. Die Erzählerin ist eine Figur aus dem ersten Roman der Trilogie. Im ersten Band der Trilogie war die Trobadora Beatriz, eine französische Dichterin und Sängerin aus dem Mittelalter, durch allerlei Zaubermittel in die DDR gekommen und dort bei einem Sturz aus dem Fenster umgekommen. Die tote Trobadora wird nun als Sirene Beatriz aus ihrem Grab ausgetrieben. Der Grund für diese „Wiederauferstehung“ ist die bedrohliche Lage der Erdbevölkerung. Der Roman spielt 1980, jedenfalls auf dieser Ebene. 1980 war die Welt noch aufgeteilt in zwei gegensätzliche Systeme: das kommunistische System mit der SU an der Spitze und das kapitalistische System mit den USA an der Spitze. DDR und BRD existierten noch als eigene Staaten und als Repräsentanten der jeweiligen Systeme. Nach einer kurzen Phase der Entspannung zwischen Ost und West in den 70er Jahren unter Willy Brandt gab es ein neues Wettrüsten zwischen den Systemen. Europa war als Austragungsort eines sogenannten begrenzten Atomkriegs vorgesehen; die Stationierung von Mittelstreckenraketen in der BRD und in der DDR wird konkret geplant und vorangetrieben.

Diese bedrohliche Weltlage treibt die ehemalige Trobadora Beatriz als Sirene aus ihrem Todesschlaf. Geschildert wird Sirene Beatriz als ein vogelähnliches Wesen (wie eine Schnee-Eule) mit einem gefiederten Körper, einem Menschengesicht und ohne Stimme. Ein Fabelwesen also. Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Sirene“? Es gibt mindestens drei Bedeutungen:

* Wir alle kennen Sirenen als technische Warninstrumente; im 2. Weltkrieg 
  warnten Sirenen die Menschen vor Bombenangriffen und jagten sie in die 
  Luftschutzkeller. 
* In der „Odyssee“ erzählt Homer, dass Odysseus auf seinen Weltfahrten an einer 
  Insel vorbeikommt, wo die Sirenen leben; gegen den verführerischen Gesang der 
  Sirenen verstopft er seinen Männern die Ohren mit Wachs und bindet sich 
  selbst am Steuer seines Schiffes fest, um diesem verführerischen Gesang der 
  männermordenden Sirenen nicht zu erliegen.
* Eine dritte, noch ältere Auslegung besagt, dass Sirenen alte, weise Frauen 
  mit viel Lebenserfahrung sind, die als Sirenen ein zweites Leben leben, um 
  zwischen den Kriegen ihre warnenden Stimmen gegen Krieg und Zerstörung zu 
  erheben. 
  Hier finden wir einen ersten wichtigen Hinweis der Autorin darauf, was das 
  Patriarchat mit Sprache macht: das Patriarchat verwandelt den Inhalt von   
  Begriffen. Von dem ursprünglichen, Frauen und ihre Lebenserfahrung 
  hochachtenden Begriff „Sirene“ geht es über die Vorstellung männerfressender, 
  verführerischer, also gefährlicher Frauen bis hin zu einem technischen Gerät.

Sirene Beatriz wird also aus ihrem Grab getrieben. Sie erwacht in Griechenland, beim Orakel von Delphi. Hier trifft sie mit Arke zusammen, einer geflügelten Schlange. Arke ist ebenfalls ein Fabelwesen, eine Tochter der Erdmutter Gaja. Zusammen mit Arke hört die Sirene Beatrix den Orakelspruch, dessen Entschlüsselung zur Rettung der Welt beitragen soll. Der Orakelspruch lautet: “In der Büchse die Hoffnung Prometheus muss holen Pandora gewinnen ihre Wiederkehr dringlich serpentische Töchter ziehen Gesang.“ Mit diesem Orakelspruch fliegt Sirene Beatrix auf dem Rücken der Erdschlange Arke nach Berlin zurück und beide gemeinsam versuchen, den Spruch zu entschlüsseln und darüber nachzudenken, wie die Welt noch zu retten ist.

Mit dieser Einleitung führt uns die Autorin an einen historischen Ort und lenkt den Blick ganz an den Anfang unserer Geschichte. Auch das ist kein Zufall. Das alte Griechenland wird als die Wiege unserer westeuropäischen Kultur bezeichnet. Historiker, Altertumsforscher, Philosophen wie z.B. Hegel, aber auch der alte Friedrich Engels sehen im antiken Griechenland, bei den alten Griechen den Anfang unserer Zivilisation, unserer Geschichte und Kultur. Der Beginn unserer Zivilisation ist allerdings mit einem Widerspruch behaftet: der Anfang unserer Kultur ist verbunden mit dem Herrschaftsverhältnis; Herrschaft von Menschen über andere Menschen und insbesondere Herrschaft von Männern über Frauen. Das lässt sich unter anderem an der griechischen Mythologie ablesen, die von Prometheus und Pandora erzählt. Sirene Beatriz macht sich also kundig, um den Orakelspruch zu verstehen: Was erzählt uns die griechische Mythologie über Prometheus und Pandora? Hesiod (griech. Geschichtsschreiber) erzählt folgende Geschichte: Am Anfang war die Erde, Gaja. Sie zeugte aus sich selbst heraus ihren Sohn Uranos, (griech. Himmel). Außerdem Pflanzen, Tiere und Menschen. Zusammen mit ihrem Sohn Uranos zeugt Gaja dann die 12 Titanen, darunter Kronos (griech. Zeit) und Japetos. Weil Uranos seine Kinder im Erdinneren einsperrt, revoltiert einer seiner Söhne, Kronos. Er entmannt den Vater und übernimmt dessen Herrschaft. Weil ihm prophezeit wird, dass auch er von seinen Söhnen entmachtet werden wird, frisst er wiederum die Kinder, die er mit seiner Frau Rhea zeugt. Rhea ist voll Zorn darüber, dass ihre Kinder gefressen werden und sinnt auf Rache. Es gelingt ihr, einen ihrer Söhne, Zeus, auf Kreta zu verstecken und dem Vater statt dessen einen Stein zum Fressen zu geben. Zeus überlebt, kehrt heim, befreit seine Geschwister und besiegt seinen Vater Kronos. Anschließend kämpft er gegen die Titanen, die ja die Brüder des Kronos sind. Prometheus ist ein Sohn des Japetos und der Klymene, gehört also zu dem Titanengeschlecht. Sein Name bedeutet „vorbedacht“, „vorausschauend“ und leitet sich u.a. daraus ab, dass Prometheus an der Seite des Zeus gegen die Titanen kämpfte, weil er voraussah, dass Zeus siegen würde. Er überredet auch seinen Bruder Epimetheus, auf der Seite des Zeus zu kämpfen. Prometheus, der die Fähigkeiten der Erde bewundert, formt aus Ton gottähnliche, männliche Menschen; die Göttin Athene haucht diesen Menschen ihren göttlichen Geist ein. Die Göttin lehrt Prometheus Architektur, Astronomie, Mathematik, Navigation, Medizin und andere nützliche Künste, die Prometheus seinen Menschen weitergibt. Er stiehlt außerdem von Zeus das Feuer und bringt es seinen Menschen. Das Feuer wird zum Mittel, mit dem die Menschen wohltätige und zerstörerische Dinge tun (können): Fleisch garen, Wärme nutzen, Erze aus der Erde schmelzen. Aber auch: Waffen schmieden und einsetzen.

Zeus will sich an Prometheus für das gestohlene Feuer rächen. Er befiehlt Hephaistos, dem Schmied, Pandora herzustellen. Sie soll die schönste Frau der Welt werden, damit Prometheus sie als Geschenk annimmt. Aber Prometheus lehnt das Geschenk ab, wohl voraussehend, dass von Zeus nichts Gutes kommt. Zur Strafe wird er an den Felsen geschmiedet, wo ein Raubvogel ihm täglich die Leber wegfrisst, die nachts wieder nachwächst. Der Bruder von Prometheus, Epimetheus (was soviel bedeutet wie nachbedacht, nachdenklich) heiratet Pandora. Hesiod schildert Pandora als schön, prächtig ausgestattet, aber dumm, böswillig und faul. Sie selbst öffnet das Kästchen, die berühmte Büchse der Pandora, aus der alle Übel der Welt über die Menschheit kommen (Sterblichkeit, Krankheit). Prometheus repräsentiert hier also den schaffenden, vorausschauenden, in die Zukunft denkenden Mann, der Menschen formt, ihnen Feuer, Wissenschaft, Künste bringt. Prometheus ist außerdem ein Ketzer, der die Autorität des Zeus in Frage stellt. Prometheus steht für das Patriarchat und den Fortschritt.

Pandora hingegen repräsentiert die von einem männlichen Gott als Strafe für die Männer geschaffene Frau. Sie bringt das Böse in die Welt, Krankheit, Tod und Verderben und zerstört den von Prometheus geschaffenen Glückszustand der Menschen. Hier sind also die Rollen schon eindeutig zugeordnet und verteilt: der Mann das Gute (und damit befugt, über Frauen zu herrschen), die Frau das Böse, das beherrscht werden muss. Die klassische griechische Mythologie ist also schon ein Ausdruck des Patriarchats, legitimiert das Herrschaftsverhältnis zwischen Männern und Frauen. Und weil die griechische Mythologie ja die Anfänge unserer Zivilisationsgeschichte beschreibt, stellt sich die Frage, ob das Herrschaftsverhältnis sozusagen von Anfang an existiert und also naturgegeben, natürlich ist.

Die Frauenbewegung der 70er Jahre hat diese doch sehr männlich dominierte Interpretation der Menschheitsgeschichte in Frage gestellt. Irmtraud Morgner lässt auch die feministische Sicht der Geschichte in ihren Roman einfließen. Im 22. Kapitel macht sich Sirene Beatrix ein zweites Mal auf nach Griechenland, um eine Freundin zu besuchen und sich über Pandora unterrichten zu lassen. Im 23. Kapitel erzählt die Freundin diese feministische Version des Prometheus-Mythos: Als Gaja, die Mutter Erde, beobachtet, dass die Waffenherstellung und Kriege die bevorzugte Beschäftigung der von Prometheus geschaffenen Menschen wurde, empfindet sie das als Mangel im Werk des Prometheus. Mutter Erde schickt ihm also Pandora, um diesen Mangel wettzumachen. Pandora heißt aber übersetzt: Allgeberin. Das heißt, sie hat alle Gaben, gute und schlechte, in ihrer Büchse.

Gaja hofft, dass Prometheus und Pandora gemeinsam ein neues Menschengeschlecht in Liebe zeugen. Zeus verhindert dies, indem er das Gerücht ausstreut, Pandora habe in ihrer Büchse alle Übel dieser Welt und wolle damit das Werk des Prometheus zerstören. Prometheus glaubt Zeus und heiratet Pandora nicht, aber sein Bruder Epimetheus (nachbedacht) heiratet Pandora und öffnet die Büchse. In der Büchse sind 2 Sorten von Gütern: Luftgestalten und Güter mit Fittichen. Luftgestalten sind messbare Güter wie Eroberungen, Siege, Wohlstand, Vaterlandsliebe. Güter mit Fittichen sind unermessliche Güter wie Erdenliebe, Sinn für Harmonie und Hegen, Kompromissfähigkeit, Frieden. Die Menschen des Prometheus laufen nur den Luftgestalten, den messbaren Gütern hinterher und werden immer grausamer und zerstörerischer. Die Güter mit Fittichen wie Erdenliebe, Harmonie und Hegen flattern davon. Da schließt Pandora schnell ihre Büchse, in der jetzt nur noch die Hoffnung enthalten ist. Sirene Beatrix gibt sich aber weder mit der patriarchalen noch mit der feministischen Version zufrieden, weil beide Varianten keine Erklärung dafür bieten, warum überhaupt dieser Gegensatz zwischen Männern und Frauen entstanden ist. So erfindet die Sirene Beatrix einen weiteren Mythos, eine Art materialistische Variante über die Entstehung und Entwicklung von Herrschaft: die Brockenmythologie. Ich halte dieses 31. Kapitel für den Kern des Romans, in dem die zentralen Thesen von I. Morgner drinstehen. [Ein Ab druck des 31. Kapitels mit dem gesamten Text der Brockenmythologie findet sich am Ende des Referats.]

1) Am Anfang war Mutter Erde, die wählt die Luft zum Gefährten und zeugt neben 
   Pflanzen, Tieren und Menschen auch Töchter und Söhne mit der Luft. Der 
   unsichtbare Vater bezweifelt die Abstammung seiner Kinder von ihm und 
   streitet mit der Mutter. Mutter Erde zeigt ihrem Gefährten den Zaubertopf 
   und die Kunst des Wünschens und der Mann wünscht sich als erstes einen 
   Kerker für seine Frau, der aus ihr selbst gebildet war. Damit ist Mutter 
   Erde eingesperrt und die Vaterschaft gesichert. Die Herrschaft des Vaters 
   wird gesichert, indem er auch die Kinder einsperrt und sich fortan Vater 
   Erde nennt. 
   Irmtraut Morgners erste zentrale These ist: Männer sperren Frauen ein, 
   weil sie ihre Vaterschaft sichern wollen. Männer fangen an, Frauen zu 
   beherrschen, um sicher zu sein, dass ihre Kinder auch wirkliche ihre Kinder 
   sind. Das erste Herrschaftsverhältnis entsteht zwischen Frauen und Männern 
   und es bezieht sich auf die Sexualität, denn zur Zeugung von Kindern gehört 
   Sexualität. Wenn wir sagen, Männer unterdrücken Frauen, dann heißt das auch, 
   Männer bestimmen über die Sexualität von Frauen. Oder anders gesagt: seit 
   Beginn unserer Zivilisation und Geschichte haben Frauen kein Recht auf 
   sexuelle Selbstbestimmung.
2) In der Brockenmythologie geht es weiter: Da die Gegensätze (Erde/Luft) nun 
   weg sind, erstirbt auch jede Bewegung. Vater Erde langweilt sich und reißt
   sich selbst in zwei Stücke, die er Gott und Teufel nennt – d.h. er schafft 
   neue Gegensätze. Die Teilung schafft neue Bewegung und Lebenslust. Gott und 
   Teufel teilen sich die Arbeit: Gott wird Fachmann für Rechthaberei, der 
   Teufel wird zum Fachmann für Widerspruchsgeist. Beide spezialisieren sich 
   noch weiter: Gott wird Fachmann für das Gute, der Teufel Fachmann für das 
   Böse. Gott residiert über der Erde, der Teufel unter der Erde. Beide 
   Ein-Mann-Parteien sind aber noch unsichtbar und brauchen Anhänger. Also 
   befreien sie die Söhne, teilen diese und setzen sie als Statthalter ein. Der 
   oberste Statthalter Gottes ist der Oberengel Zacharias, der oberste 
   Statthalter des Teufels ist der Oberteufel Kolbuk. Die Töchter bleiben ganz 
   und eingesperrt. 
   Die zweite These von I. Morgner lautet: Die Etablierung von Herrschaft 
   ist notwendig verbunden mit Teilung: Ohne Gegensätze (Erde/Luft) erstirbt 
   jede Bewegung. Vater Erde reißt sich selbst in zwei  Stücke, die er Gott 
   und Teufel, nennt - d.h. er schafft neue Gegensätze. Wer herrschen will, 
   muss sich selbst zerreißen, muss etwas von sich abtrennen. Das Abgetrennte       
   kann man dann „das Böse“, Angst oder auch Schwäche nennen und den Frauen 
   zuschreiben. Wenn mann sich selbst dann „das Gute“ nennt, ist der Mann zum 
   Maßstab geworden, an dem die Frau sich messen muss. 
   Gleichzeitig zeigt die Autorin die Notwendigkeit von Herrschaft und damit 
   Teilung,  denn ohne Gegensätze (am Anfang Erde und Himmel) gibt es keine 
   Bewegung (der Himmel langweilt sich), Stagnation tritt ein. Erst die 
   Gegensätze von „Gott“ und „Teufel“ bringen wieder Lebenslust, Entwicklung. 
   Fortschritt ist also offenbar nur um den Preis von Herrschaft zu haben! Und 
   das bedeutet auch: die Etablierung von Herrschaft, die Ablösung des 
   Matriarchats durch das Patriarchat war historisch notwendig, um Entwicklung 
   und Fortschritt zu ermöglichen. 
3) Auf der Ebene der Menschen passiert das Gleiche. Die Männer spezialisieren 
   sich zu Fachmännern für das Gute mit Aussicht auf ein Weiterleben nach dem 
   Tode, die Frauen sollen sich auf das Böse spezialisieren. Da die Frauen 
   diese Arbeitsteilung nicht freiwillig übernehmen wollen, werden sie von den 
   Männern in den „Kerker des Tadels“ eingesperrt. So wurde nach dem Vorbild 
   der unsichtbaren Mächte Ordnung in die Menschheit gebracht, soll heißen, 
   so entstand die patriarchale Herrschaftsordnung.  Gegen diese Ordnung in 
   ihren verschiedenen Ausformungen haben sich immer wieder Männer und Frauen 
   zur Wehr gesetzt, Sirene Beatrix nennt sie „die Querköpfe“, die nicht 
   an eine gottgegebene oder andere unumstößliche Ordnung glauben. 
   Die weiblichen Querköpfe stiegen auf die Zauberberge, um dort „etwas zu 
   brauen, das die Ordnung verwünschen konnte“. Denn innerhalb einer 
   herrschenden Ordnung lässt sich nicht gut über neue, andere Ordnungen 
   nachdenken. Die gewissen Männer, die den Frauen auf diese Zauberberge 
   folgten, übernahmen – nach alter, d.h. patriarchaler -  Gewohnheit – das 
   Brauen in ihre Regie und verdrängten die Frauen. 
   Die dritte wichtige Erkenntnis soll also sein: Bei allen Rebellionen und 
   Revolutionen  kämpfen Frauen und Männer gemeinsam gegen die herrschende 
   Ordnung; aber wenn eine neue Ordnung etabliert ist, werden die Frauen 
   „beurlaubt“ (wie I. Morgner das ausdrückt). Jede neue Ordnung ist also bisher 
   immer eine patriarchale Ordnung, in der das Unterdrückungsverhältnis 
   zwischen Männern und Frauen fortbesteht. Die These der Autorin lautet: Auch 
   in der DDR, die ja ebenfalls eine neue, sozialistische Ordnung sein wollte, 
   in der das Privateigentum an Produktionsmitteln, Konzerne und Ausbeutung der 
   Menschen abgeschafft waren, herrscht das Patriarchat.
   Die Entstehung von Herrschaft, von Patriarchat war also historisch 
   notwendig, um überhaupt Bewegung, Fortschritt zu erzielen. Dieser 
   Fortschritt hat aber immer einen widersprüchlichen Charakter, weil er 
    a) mit Herrschaft, mit Gewalt im weitesten Sinne verbunden ist
    b) weil er Frauen und damit weibliche Fähigkeiten ausschließt.

Wohin dieser männlich geprägte, widersprüchliche Fortschritt die Welt bis 1980 gebracht hat, beschreibt die Autorin in den restlichen Kapiteln dieser Ebene. Arke unternimmt mehrere Weltflüge und schildert der Sirene Beatrix den Zustand der Welt:

* 1980 lagern auf dem Planeten Erde 3 Tonnen Sprengstoff pro Kopf der 
  Bevölkerung (15 g genügen, um einen Menschen zu töten), es existieren Vorräte 
  zur 20fachen Weltvernichtung. 
* 1980 zeigen sich Anzeichen der ökologischen Krise: das Mittelmeer steht kurz 
  vor dem Umkippen, der Meeresboden ist versteppt, es gibt keine Fauna und die 
  Fischerträge reichen nicht mehr aus. Der tropische Regenwaldgürtel ist 
  bereits zur Hälfte abgeholzt. In 20 Jahren (also heute) wird die Hälfte aller 
  Wälder verschwunden sein; die Konzentration von Kohlendioxyd und die 
  ozonabbauenden Chemikalien in der Atmosphäre in solchem Maß zunehmen, dass 
  sich das Klima der Erde entscheidend verändern wird.
* Eine wachsende Zahl menschlicher Wesen benötigt Ressourcen, die immer knapper 
  werden. Die USA, die 1980 5 % der Weltbevölkerung ausmachen, verbrauchen 30 % 
  der Welterdölvorräte (was ja, wie wir inzwischen erlebt haben, zum Krieg im 
  Irak und der Übernahme der dortige Ölreserven geführt hat). 

Sirene Beatriz und Arke kommen zu folgender Auslegung des Orakelspruchs („In der Büchse die Hoffnung Prometheus muss holen Pandora gewinnen ihre Wiederkehr dringlich serpentische Töchter ziehen Gesang“). Die Zukunft der Erde ist abhängig von der Aussöhnung zwischen Prometheus und Pandora. Nur beide zusammen könnten in Liebe ein Menschengeschlecht erzeugen, das nicht destruktiv-selbstzerstörerisch ist. Die Idee von Irmtraud Morgner lautet:

Die Fähigkeit des Hegens ist beiden Menschenarten (Mann und Frau) gegeben, 
  aber die herrschende Spezialistenkultur hat diese Fähigkeit seit 
  Jahrtausenden nur bei den Frauen entwickelt. Hegen für private Zwecke. Jetzt 
  ist der historische Punkt erreicht, da diese Fähigkeit bei Strafe des 
  Untergangs der Erde für öffentliche Zwecke unentbehrlich wird. 
  Alleinherrschendes Eroberungsdenken in Gesellschaft, Wissenschaft und Technik 
  haben die Erde an Abgründe geworfen. Eroberungsdenken von Männern ist eine 
  Kulturzüchtung, nicht Männernatur. Nur wenn die Frauen, die andere Hälfte der 
  Menschheit, bestimmte Fähigkeiten und Tugenden in die große Politik 
  einbringen, können atomare und ökologische Katastrophen abgewendet werden.

Die Erkenntnis aus der ersten Ebene des Romans ist also: die Etablierung von Herrschaft war historisch notwendig, sie führt zu einem Fortschritt, der widersprüchlich ist, weil er die Fähigkeiten der Frauen nicht einbezieht. Diese Art von patriarchalem Fortschritt ist inzwischen – 1980 – lebensgefährlich geworden und muss durch eine Aufhebung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Männern und Frauen verändert werden. Um das Herrschaftsverhältnis zwischen Männern und Frauen aufzuheben, muss man es zunächst einmal erkennen und begreifen. Wie macht sich das Patriarchat im Alltag bemerkbar? Wie sieht das Herrschaftsverhältnis im Alltag aus? Das erzählt I. Morgner auf der 2. Ebene,

2. der Alltagsebene:

Auf der Alltagsebene, die 1976/77 spielt, ist Laura Amanda Salman die Hauptfigur. Laura Amanda ist die Tochter von Lokführer Johann Salmann und seiner Hausfrau Olga. Laura ist schon als weiblicher Querkopf geboren worden, der sich von Anfang an gegen autoritäre Ordnungen und Personen zur Wehr setzt. Schon mit 5 Jahren sperrt sie die herrische und ständig nörgelnde Großmutter in der Schrebergartenhütte ein und genießt eine Stunde „ohne Obrigkeit“. Den 8. Mai, das Ende des 2. Weltkrieges, erlebt Laura als ein Neu-geboren-Werden, als Zuwachs von Bewegungsfreiheit und Freiheit überhaupt. Die bislang mächtigen und autoritären Erwachsenen sind verunsichert und trauen sich nicht mehr, dem Mädchen Vorschriften zu machen. Da ist Laura 12 Jahre alt. Lauras Mutter oder ihre Großmutter können ihr „nichts außer Gehorsam vorleben. Sie können ihr keine Vorbilder sein. Lauras Vorbilder sind männlich. Sie möchte sein wie ihr Vater, der Lokführer ist und weite Fahrten unternimmt, Grenzen überschreitet. Oder wie Don Giovanni oder Goethes Faust: voller Tatendrang, stolz, ketzerisch und besessen von Neugier – also alles Eigenschaften, die auch dem Prometheus zugeschrieben werden. Wie kommt eine Frau mit solchen prometheushaften Bestrebungen in einer Männergesellschaft an? Die Konfrontation mit den wirklichen Männer des neuen Staates ist für Laura eher ernüchternd. a) Da wäre zunächst Lauras Vater, Johann Salman, der Lokführer. Er gehört zu den sogenannten „Kleinen Leuten“, er liebt es, unauffällig zu sein und in der großen Masse mitzuschwimmen bzw. sich der Masse anzupassen, zu tun, was alle tun. Er findet Lauras Idee, Lokführerin werden zu wollen, lächerlich, denn für ihn ist Lokführer ist ein Männerberuf. Für Lauras Vater gibt es keinen Zweifel an der Rollenverteilung: für die Frauen der Haushalt und die Kinder, vielleicht noch Berufe, in denen sie ihre weiblichen Fähigkeiten ausleben können, wie Lehrerin oder Kindergärtnerin. Für die Männer die „richtigen“ Berufe. b) Ein anderes Beispiel ist Kurt Fakal, der Vater von Heinrich Fakal. Heinrich ist ein Schulfreund Lauras und FDJ-Sekretär an der Parallelschule. Heinrich wird zum Studium nach Moskau delegiert und bei der Abschiedsfeier lernt Laura seinen Vater kennen. Kurt Fakal hat schon in der Weimarer Republik als Kommunist für eine andere Gesellschaft gekämpft, hat dann gegen den Faschismus Widerstand geleistet und 12 Jahre Gefängnis und Konzentrationslager überlebt. Seine Frau hat während dieser Zeit als Putzfrau gearbeitet und die vier Kinder durchgebracht. Kurt Fakal wird in der DDR als vorbildlicher Sozialist hochgeachtet; er wird Bürgermeister und Polizeipräsident. In der Öffentlichkeit handelt er wie ein vorbildlicher Sozialist, in seiner Familie herrscht er wie ein Despot. „Die Frau ist das Hinterland des Soldaten“, so lautet sein Motto. Für den fortschrittlichen Kommunisten ist die Frau in erster Linie Hausfrau und Mutter, bei der er sich von seinen „Schlachten“ im Berufsleben oder von seinen hohen Funktionen als Parteisoldat erholt; und die ihm die Kinder gebiert und erzieht. Aus dem Widerstandskämpfer war ein stolzer Oberst, aus der Widerstandskämpferin eine duldende Hausfrau geworden. c) Der dritte wirkliche Mann, dem Laura begegnet, ist Konrad Tenner, den sie während ihres Studiums kennen und lieben lernt. Konrad ist ein Ketzer, einer, der sich nicht unbedingt an die gegebene Ordnung hält und dessen Lebensmotto lautet: Ohne Lust kein Leben. Aber so ketzerisch im Denken Konrad Tenner auch sein mag, auch er sucht nach Sicherheit, die er in einer Familie zu finden hofft. Er will Laura heiraten, Kinder und ein Zuhause mit ihr haben, denn „Nur Frauen mit Kindern sind sicher“ und am liebsten würde er Laura aus lauter Liebe einsperren. Die Erkenntnisse, die Laura aus der Begegnung mit diesen Männern zieht, sind folgende: Das Patriarchat äußert sich im Alltag auf zweifache Weise:

1. Männer haben ihr „Hinterland“, d.h. sie haben ihre (Ehe)Frauen als den Ort, 
   an dem sie sich von den Anforderungen ihrer Berufe oder Funktionen erholen 
   können, den Ort der Reproduktion. Frauen haben diesen Ort nicht, weil sie ja 
   selbst diese Reproduktionstätigkeit für die Männer leisten (sollen). 
2. Das Patriarchat nutzt Ehe und Familie als Instrument, um seine Herrschaft 
   aufrecht zu erhalten. Ehe und Familie sind für Frauen unweigerlich damit 
   verbunden, neben einer eigenen Berufstätigkeit immer auch die 
   Reproduktionsarbeit für den Mann mit zu übernehmen, also das, was wir heute 
   so schön die Doppelbelastung von Familie und Beruf nennen. 

Laura will auch ein Hinterland haben, aber nicht, indem sie einen anderen Menschen instrumentalisiert. Soll heißen: Für Laura ist es kein erstrebenswertes Ziel, die ganze Sache einfach umzudrehen und einen anderen Menschen (einen Mann) für ihre Reproduktion verantwortlich zu machen. Laura beschließt, sich in alchemistischen Experimenten ihr eigenes „Hinterland“, eine Insel zu destillieren. Laura weigert sich, Konrad Tenner zu heiraten und Kinder mit ihm zu haben, bevor sie sich nicht ihr eigenes „Hinterland“, ihre Insel geschaffen hat. Das soll heißen, Laura sucht eine Möglichkeit, diese patriarchale Herrschaftsform zu durchbrechen. Laura Amanda verweigert die ihr als Frau zugedachte Rolle, das „Hinterland“ für einen Mann zu sein, die Reproduktionsarbeit zu übernehmen. Und sie will nicht länger eingesperrt bleiben und darauf warten, dass die Männer den in der Brockenmythologie versprochenen weißen Stein oder das Trinksilber nachbauen und die Frauen irgendwann „bald“ entrücken (= befreien). Laura Amanda will ihre Befreiung in die eigenen Hände nehmen und zwar jetzt sofort. Dies ist für ein patriarchales Herrschaftssystem eine zu große Herausforderung. Oberteufel Kolbuk erscheint in Laura Amandas Küche und haut Laura mit seinem Richtschwert in zwei Teile. Seine Begründung für die teuflische Teilung lautet: Laura will den Nebenwiderspruch (das Herrschaftsverhältnis zwischen Männern und Frauen) zum Hauptwiderspruch machen und steht damit ihrem Glück selbst im Weg. Nach der Teilung könne sie Mann und Kinder glücklich machen und zufrieden und geachtet leben. Kolbuk bringt Amanda, die hexische Hälfte, auf den Hörselberg und lässt eine veränderte Laura zurück.

Die teuflische Teilung und der Umgang damit

Laura ist zum Sinnbild einer gespaltenen Frau, eines Halbwesens geworden. Irmtraud Morgner zeigt mit dieser teuflischen Teilung der Laura Salman noch einmal auf den Widerspruch der Gleichberechtigung. Frauen werden in den gesellschaftlichen Produktionsprozess einbezogen, sind aber zusätzlich allein verantwortlich für die alltägliche Reproduktionsarbeit. Diese Art von Gleichberechtigung bedeutet, dass Frauen sich teilen müssen in Berufsarbeit und Reproduktionsarbeit, Männer dagegen von dieser Verantwortung und damit Teilung entlastet sind. Sie können sich ungehindert und ungestört auf ihre Berufstätigkeit fixieren und dort ihre ganze Kreativität und ihr schöpferisches Potential ausleben. Ein Ausbrechen aus den Rollenklischees oder eine Verweigerung der Doppelbelastung wird bestraft, bei Laura Salman exemplarisch durch die teuflische Teilung. Nicht alle Frauen verweigern so radikal wie Laura die ihnen zugedachte Rolle, nicht bei allen muss Oberteufel Kolbuk persönlich auftreten. Die Teilung, die man auch Entfremdung nennen könnte, gilt in unterschiedlichen Formen für alle Frauenfiguren und auch für die Männerfiguren des Romans. Was sie für Frauen und Männer bedeutet, will ich an einigen Beispielen zeigen.

Laura Salmann

Für Laura bedeutet Die Teilung Laura einen Verlust von Lebenskraft, Lebensfreude und die Trennung von der eigenen Sexualität. Nach der Teilung ergibt Laura sich in die von ihr erwartete gesellschaftliche Doppelrolle. Sie hat ihr eulenspiegelhaftes Wesen und ihre Attraktivität verloren, wird körperlich und geistig träge. Konrad Tenner verliert das Interesse an ihr und verlässt sie. Laura heiratet den Bauarbeiter Benno Pakulat und zeugt mit ihm einen Sohn, Wesselin. Ihr Mann stirbt bei einem Autounfall und Laura muss allein für sich und ihren Sohn sorgen. Sie arbeitet als Triebwagenfahrerin bei der Berliner S-Bahn. Laura liebt ihre Arbeit leidenschaftlich, aber als alleinerziehende Mutter kann sie nur in Nachtschichten arbeiten, um ihren Sohn morgens zum Kindergarten zu bringen und ihn nachmittags wieder abholen zu können. Das heißt: sie schläft nachts nicht, weil sie arbeitet und tagsüber oft auch nicht, weil sie sich um Kind und eigene Reproduktion kümmern muss. Laura fühlt sich den unterschiedlichen Belastungen durch Beruf, Kind und Haushaltsführung nicht mehr gewachsen. Sie leidet unter chronischer Müdigkeit, die sich bis zur Lebensunlust und Lebensmüdigkeit steigert. Lauras Sexualleben findet eigentlich nicht statt. Sie nimmt zwar die Pille, um jederzeit einsatzbereit zu sein, hat aber gar keine Zeit und Gelegenheit, Männer kennen zu lernen. Die Männer, mit denen Laura schläft, lernt sie auf ihren nächtlichen Triebwagenfahrten kennen und hofft immer darauf, einmal „den richtigen“ zu finden. Aber „der Sexspaß blieb fast immer aus“. Und das eigentliche Ziel dieser sexuellen Begegnungen ist der verzweifelte Versuch, einen Vater für ihren Sohn zu finden. Denn Laura steht als alleinerziehende Mutter unter dem Druck der – selbstverständlich männlichen – wissenschaftlichen Erkenntnis, dass Jungen ohne männliche Identitätsperson in der Gefahr schweben, homosexuell zu werden. Die einzige sexuelle Begegnung Lauras, die im Roman auch beschrieben wird, findet unter ausgesprochen lustfeindlichen und menschenunwürdigen Bedingungen statt: Laura und Konrad Tenner schlafen miteinander

* auf einer Baustelle (am Deutschen Dom), 
* in der Nacht und 
* bei Nieselregen. 

Im sexuellen Akt leben die beiden nicht ihre Wünsche und Phantasien aus, sondern es werden vorgegebene Bilder nachgeahmt, hier „eine gewisse Abbildung vom indischen Devi Dschagadamba-Tempel“ (341). Lauras individueller Lösungsversuch besteht darin, sich durch alchemistische Experimente ein „Schlafersatzelexier“ zu brauen oder „eine Insel, wohin ich mich ausgepumpt werfen kann, wie Männer sich in die Arme einer Frau werden; mein Hinterland, wohin ich mich flüchten kann mit Wesselin, um meine Arbeitskraft zu reproduzieren. Allein zwar, aber ungezwiebelt und unauffindbar.“ Bei diesen Experimenten trifft Laura mehrfach Amanda, ihre abgetrennte hexische Hälfte. Amanda will sich mit Laura vereinigen, um das Patriarchat zu stürzen und die Befreiung der Frauen, sprich: die Ganzheit aller weiblichen Halbwesen wieder herzustellen. Aber Laura will gar keine Vereinigung mit Amanda, obwohl ihr die Begegnungen mit ihrer anderen Hälfte immer zu neuer Lebenskraft verhelfen. Aber eine Vereinigung mit Amanda, ein Ganz-Werden hieße ja, sich die eigene Lage als Frau mit all den Verletzungen, Kränkungen, Reduzierungen und Verkrüppelungen bewusst zu machen, ein sehr schmerzhafter und unangenehmer Prozess. Laura bleibt bei ihrer individuellen Strategie der alchemistischen Experimente. Und als die nicht zum Erfolg führen, lässt sie sich lieber von einem Mann als von ihrer anderen Hälfte helfen. Heinrich Fakal, ihr Jugendfreund, soll ihr helfen, das Trinksilber vom Blocksberg zu stehlen. Diese Strategie scheitert, weil das Patriarchat, oder besser: die Männer, die ihm anhängen, nicht zulassen, das ihre eigenen Geschlechtsgenossen sich mit Frauen verbünden.

Vilma Gommert-Tenner

Vilma Tenner ist die Frau, die Konrad Tenner später geheiratet, bei der er sein mütterliches Zuhause und seine Sicherheit gefunden hat. Vilma hat drei Kinder und ist von Beruf Sekretärin. Vilma hat schon früh begriffen, dass Geschichte und Gewohnheit von den Frauen die „Spezialisierung“ auf Ehe und Kindererziehung verlangen. Vilma bricht mit 24 Jahren ihr Philosophiestudium ab und beschließt, zwei Leben zu leben. Das erste Leben als Sekretärin, Ehefrau und Mutter besteht aus Dienstleistungen und Verzicht. Das zweite, wirkliche Leben soll nach ihrem 40. Geburtstag stattfinden, da will sie sich von Konrad Tenner scheiden lassen und ihr Philosophiestudium wieder aufnehmen. Um dieses auf die Zukunft verschobene Leben ertragen zu können, hat Vilma die „Leibrede“ und das „Hälftenschlucken“ erfunden. Leibrede bedeutet: alle guten Gedanken, Ideen und Vorstellungen, die für spätere wissenschaftliche Arbeit gebraucht werden können, werden leise ausgesprochen und verschluckt, damit sie nicht verloren gehen. „Hälftenschlucken“ bedeutet, die eigene, störende Hälfte, die den reibungslosen Ablauf des Ehealltags stören könnte, wird verschluckt und es wird geschwiegen. Auch diese Strategie geht natürlich nicht auf, Vilma landet (jedenfalls vorrübergehend) in der Psychiatrie.

Hilde Felber

Hilde Felbers Strategie besteht in dem Versuch, an der Macht der Männer teilzuhaben. Sie ist seit 13 Jahren Parteifunktionärin im Staatsapparat. Das bedeutet, sich den Regeln des Patriarchats anzupassen und männliche Eigenschaften kultivieren zu müssen. Von Hilde Felber wird erwartet, so zu leben und zu arbeiten, wie ihre männlichen Kollegen das tun und dabei auch das gleiche Konkurrenzdenken und Machtstreben zu entwickeln. Hilde kann aber das Streben nach Macht nicht so richtig ausbilden, weil sie verheiratet ist, vier Kinder hat und eine kranke Großmutter. Hilde hat kein „Hinterland“, das heißt, sie kann im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen den Druck und die Belastungen der politischen Verantwortung nicht oder nur begrenzt in ihrer Familie abladen. Die Dreifachbelastung als Leitungskader, Ehefrau und Mutter haben ihre Gesundheit ruiniert, wegen Herzinfarktverdacht muss sie in regelmäßigen Abständen zur Kur fahren. Hilde ist so etwas wie eine Quotenfrau, eine Vorzeigefrau im Machtapparat der Partei. Aber viele Frauen mögen Hilde nicht, weil sie da „fehlt“, wo Frauen sich treffen und versuchen, ihre Alltagsprobleme zu lösen. Bei allen Frauenfiguren des Romans fällt auf, dass sie durch die „Fähigkeit des Hegens“, wie Irmtraud Morgner das nennt, in ihrer individuellen Entwicklung beschränkt werden. Diese Fähigkeit ist zwar von Natur aus beiden Geschlechtern gegeben, aber „von der herrschenden Spezialistenkultur (dem Patriarchat) seit einigen Jahrtausenden nur bei den Frauen entwickelt“. Und das gilt nicht nur im Familien- oder Beziehungsleben, sondern auch im Beruf. Alle Frauen üben Dienstleistungsberufe aus: Sekretärin, Funktionärin, Triebwagenfahrerin. Die Wissenschaft dagegen ist – jedenfalls in Morgners Roman – eindeutig eine Domäne der Männer. Die Männer scheinen vom der „herrschenden Spezialistenkultur“ (dem Patriarchat) zunächst nur zu profitieren: die haben Frauen, die für ihre Reproduktion sorgen, sie können sich ungestört und total auf ihre Berufsarbeit konzentrieren. Aber die Männer sind nach der Brockenmythologie von Anfang an geteilt. Wie sieht nun die Teilung und der Umgang damit bei den Männern aus?

Konrad Tenner

Konrad Tenner ist Geschichtswissenschaftler. Seine wissenschaftliche Theorie lautet, dass „die männliche Art von Natur aus zu Aggressivität und Brutalität neigt und geschichtsprägend geworden“ ist. Soll heißen: das Patriarchat und damit auch das Herrschaftsverhältnis zwischen den Geschlechtern ist naturgegeben. Mit dieser Geschichtsauffassung legitimiert Tenner das Patriarchat, das Herrschaftsverhältnis zwischen den Geschlechtern sozusagen auf „wissenschaftlicher Ebene“. Weil Tenner die Machtstrukturen wissenschaftlich legitimiert, hat er auch Anteil an der Macht. Er darf als Rabe auf den Hörselberg fliegen und in sogenannten „Seancen“ die Annehmlichkeiten des Bordells genießen, das Kolbuk dort ja eingerichtet hat. Aber Tenner gerät auch in Probleme mit seiner Auffassung von Geschichte. Denn:

* wenn Geschichte naturgegeben von Männern und ihren Aggressionen dominiert  
  wurde, dann lässt sich daraus ableiten, dass Geschichte nur eine Folge von 
  Kriegen, von Gewalttaten ist. Dann hat Geschichte keine andere Tradition 
  anzubieten als die kriegerische Lösung von Konflikten. Angesichts der 
  drohenden Stationierung von Mittelstreckenraketen im Zentrums Europas, 
  angesichts eines drohenden Atomkrieges sind aber dringend andere Lösungen 
  gefragt. Weil eine kriegerische Lösung die Zerstörung des Planeten Erde 
  bedeuten würde. Tenners Wissenschaft ist also unproduktiv, sie kann keine 
  Theorien zur friedlichen Lösung von Konflikten anbieten. Das stürzt Tenner in 
  eine Schaffenskrise, in eine geistige Impotenz. 
* Wenn das Herrschaftsverhältnis zwischen den Geschlechtern naturgegeben ist, 
  dann sind es auch die damit verbundenen Rollenklischees für Männer und 
  Frauen. Und Tenner reproduziert diese Rollen in seinem eigenen Leben. So 
  erwartet er von seiner Frau „entspannte Züge, ein ausgeglichenes Wesen, 
  Zurückhaltung und Anpassung“. Das bedeutet nicht nur, dass sie seine Kinder 
  zur Welt bringt, sein Essen kocht und seinen Haushalt führt, sondern auch, 
  dass sie jederzeit bereit ist, ihm zuzuhören, wenn er über eine seiner 
  wissenschaftlichen Ideen sprechen will und für Ruhe zu sorgen, wenn er 
  ungestört arbeiten will. Tenner hält es für normal, dass er der Mittelpunkt 
  ihres Lebens sein. Sie soll ihm den Rücken freihalten für seinen 
  Lebensmittelpunkt: die Wissenschaft. Eine wirkliche Beziehung kommt nicht 
  zustande.
  Und Tenner leidet auch unter dem herrschenden Männerbild. Männer sind Sieger 
  und Gewinner. Sie sind produktiv und erfolgreich. In Tenners Fall hieße das, 
  Lösungen für die politischen Probleme zu finden. Da er inhaltliche Erfolge 
  nicht vorweisen kann, entwickelt Tenner exzentrische und originelle Schrullen 
  – wie z.B. die Anschaffung von 5 Fernsehbildschirmen, mit denen er sein 
  historisches Archiv ständig vervollständigen kann. Konkurrenz und 
  Leistungsdruck verbieten es, sich einem anderen Mann ernsthaft anzuvertrauen, 
  Ängste, Selbstzweifel und Unsicherheiten  müssen heruntergeschluckt werden. 
  Das führt zu Angstneurosen, die nur noch mit Alkohol betäubt werden können. 

Mit seiner Teilhabe an der Macht versucht Tenner, seine „Privatlösung“ durchzusetzen. Er möchte ein Arbeitszimmer im Hörselberg, wo er sich mit Frauen umgeben kann. Denn bei den Frauen vermutet Tenner die „größten ketzerischen Potenzen“. Das soll heißen, Tenner genügt es nicht mehr, Frauen sexuell auszubeuten (in Kolbuks Bordell auf Schloß Blocksberg), er möchte auch von ihrer geistigen Kreativität profitieren, sie für sich und seine Karriere nutzen. Das möchte er aber erreichen , ohne seinen status quo aufzugeben oder seine eigene Rolle im Herrschaftsverhältnis kritisch zu reflektieren.

Heinrich Fakal

Heinrich Fakal hat sich schon als Jugendlicher „selbst zerhackt“. Als sein Vater nach 12 Jahren Haft in Konzentrationslagern und Zuchthäusern nach Hause kommt, lernt Heinrich, sich der Autorität des Vaters zu beugen. Er übernimmt dessen Lebensmotto „Brutal gegen sich, hart gegen andere“, mit dem die neue, sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden soll. Fakal will unbedingt die Erwartungen seines Vaters erfüllen, er wird FDJ-Sekretär, Schulsprecher, er wird nach Moskau zum Studium delegiert. Fakal wird der „eiserne“ Heinrich. Seine andere Hälfte, Henri genannt, wird in einen Pappkoffer gesperrt. Fakal wollte schon als Kind Mathematik studieren, doch das Studium in Moskau sieht vor, dass er Philosophie studiert. Seine Verzweiflung darüber und alle andere Gefühle, die nicht zu seiner Rolle passen, werden zusammen mit der anderen Hälfte im Koffer unter ständigem Verschluss gehalten. Fakal vertagt – ähnlich wie Vilma – den Beginn seines „wirklichen Lebens“ auf später, hofft auf ein zweites Studium, wo er Mathematik studieren kann. Aber sein Leben ist vom Staat völlig verplant; Fakal heiratet, bekommt einen Sohn und arbeitet als Wissenschaftler. Erst nach seinem 40. Geburtstag, nach seiner Scheidung, kann Fakal seine zweite Hälft, Henri, aus seinem Koffer entlassen. Er schafft sich eine mathematische Bibliothek an und lebt mit seiner zweiten Hälfte allein in einer Mietwohnung in Berlin. Fakal arbeitet als Philosoph am Institut für Wissenschaftstheorie. Staat und Partei erwarten von ihm Gesetze zur Intensivierung der Wissenschaft. Fakal ist erstarrt unter der übergroßen Verantwortung, die er trägt, er kann keinen produktiven Gedanken mehr entwickeln. Auch er betäubt Erfolgszwang und Angst vor Misserfolgen mit Alkohol. Fakal hat nach seiner Scheidung ein ausgeprägtes Sexualleben mit ständig wechselnden Frauen. Aber er ist nicht glücklich damit, denn die Frauen sind alle so entgegenkommend und so fürsorglich in ihrer Liebe. Fakal sehnt sich nach einer verzehrenden, leidenschaftlichen Liebe, nach einer Frau, die er erobern kann. Als Fakal durch den Anblick einer fliegenden Frau auf einem Besen im Himmel über Berlin aus seiner produktiven Krise gerissen wird, will er Laura helfen, das Trinksilber aus dem Hörselberg zu stehlen. Denn er hofft, damit Amanda zu gewinnen. Und weil er hofft, dadurch an den weiblichen schöpferischen und kreativen Potenzen der Frauen teilhaben zu können und seine eigene Erstarrung und Unproduktivität aufzulösen. Aber Fakal scheitert. Das Patriarchat lässt eine Verbündung von Männern mit Frauen gegen die Herrschaft nicht zu. Fakal wird von seinem eigenen Geschlechtsgenossen, Konrad Tenner, verraten. Teilungs- oder Entfremdungphänomene gibt es also auch bei den Männern. Das Patriarchat hat auch für Männer eine negative Seite: sie müssen sich auf eingeschränkte Wissenschaftsbereiche spezialisieren; sie müssen sich als Individuum ihrer Funktion als Wissenschaftler unterordnen und ihre Wissenschaft wiederum unter die herrschende Politik. Das führt zu Unproduktivität oder geistiger Impotenz. Beide Männer möchten an der Schöpferkraft und Kreativität von Frauen teilhaben, aber ohne das Patriarchat und ihre Rolle darin in Frage zu stellen. Denn sie können sich mit ihrer Teilung besser einrichten als die Frauen. Für die Frauen ist die Teilung unerträglich, nicht aushaltbar, führt zu Lebensunlust oder Krankheit/Verrücktheit.

Für ein produktives, umfassend glückliches Leben wäre die Vereinigung der getrennten Hälften als Voraussetzung objektiv notwendig, denn „nur wiedervereinigt kann aus uns werden, was die Natur exponiert hat.“ Die Überwindung der Teilung findet aber im Alltagsleben aus drei Gründen nicht statt.

* Erstens, weil die (männliche) Parteiführung das Problem nicht als 
  gesellschaftliches Problem begreift, das politisch diskutiert werden müsste. 
  Die Partei hat zwar dafür gesorgt, dass die Frauen voll in die 
  Berufstätigkeit einbezogen wurden, dass sie ökonomisch unabhängig sind. 
  Andererseits werden die bürgerlich-patriarchalen Sitten und  Gewohnheiten der 
  Frauenunterdrückung von der DDR übernommen, aber eine offensive 
  Auseinandersetzung damit findet nicht statt. Das Patriarchat wird zum 
  individuellen Problem der Frauen, in das der Staat sich nicht einmischen kann 
  und will. 
* Dementsprechend brauchen sich zweitens die individuellen Männer nicht mit 
  ihrer Rolle in diesem Herrschaftsverhältnis auseinander zu setzen; sie sind 
  sich des Problems nicht bewusst oder wollen seiner Erkenntnis ausweichen; 
* Und drittens sehen Laura und die anderen Frauen die Notwendigkeit des Kampfes 
  um die Aufhebung der Teilung nicht ein, haben auch gar keine Zeit dazu oder 
  resignieren vor der Übermacht, mit der sie sich anlegen müssten. Männer und 
  Frauen suchen nach individualistischen Lösungen, die die Autorin nicht 
  befriedigend findet. Wie könnten andere Lösungen aussehen? Anregungen dazu 
  gibt I. Morgner auf der dritten Ebene des Romans.


3. Die phantastische Ebene

Die phantastische Ebene bezieht sich auf das Reich des unsichtbaren Oberengels Zacharias, des Oberteufels Kolbuk, seine Raben und die abgetrennten hexischen Hälften. Dieses Reich war zunächst auf dem „Brocken“ angesiedelt; wo die Männer hingingen, um zunächst den weißen, dann den roten Zauberstein nachzubauen, also die Welt zu erobern, während die Frauen im Hörselberg eingesperrt blieben. Der „Brocken“ ist der höchste Berg im Harz. Vielleicht kennen einige von Euch den Hexentanzplatz auf dem Brocken, wo sich in der Walpurgisnacht angeblich die Hexen treffen. Dieser Berg lag direkt an der Grenze der DDR zum Westen, also im Sperrgebiet. Von dort musste der „übersinnliche Schwarm“, wie I. Morgner ihn nennt, evakuiert werden. Die DDR-Regierung wollte sich nicht in die „inneren Angelegenheiten“ dieses übersinnlichen Schwarms einmischen. Sie ließ ihn lediglich mit Unterstützung der Grenztruppen nach Thüringen, ins Landesinnere umquartieren. Den Raben wurde das Schloss Blocksberg zur Verfügung gestellt, den Hexen der Hörselberg, wo sie den Raben sexuelle Dienste leisten mussten. Das ist ein sehr schönes Bild für die Tatsache, dass die DDR-Regierung sich nicht in die inneren Angelegenheiten zwischen Männern und Frauen, in das Herrschaftsverhältnis einmischen wollte. Der deutlich gewordene Konflikt des Herrschaftsverhältnisses sollte in das Innere der Beziehungen verlegt werden. Welchen Zweck erfüllt nun dieser „übersinnliche Schwarm“? Was sollen diese phantastischen Gestalten? Hexen, Zauberer, der Teufel - sie gehören ins Reich der Phantasie, der Einbildungskraft, oder man könnte auch sagen: in den Bereich unserer Vorstellungen. Wenn wirkliche Veränderungen geschehen, die den Menschen nicht bewusst sind, dann machen Menschen sich Vorstellungen, um sich diese wirklichen Veränderungen zu erklären. Manchmal auch zunächst verzerrte Vorstellungen. I. Morgner gibt uns ein Beispiel. Sie fragt danach, wie die Sage von der Walpurgisnacht entstanden ist. Im 59. Kapitel erzählt sie diese Sage, wie sich in der Nacht zum 1. Mai der Teufel und die Hexen auf dem „Brocken“ treffen und ihr Fest feiern. Der tatsächliche Ursprung dieser Sage liegt in der Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen: die Sachsen haben sich hartnäckig gegen die Christianisierung gewehrt und noch lange nach der Übernahme des christlichen Glaubens ihre heidnischen Götter verehrt, u.a. auch das Frühlingsfest, das am 1. Mai stattfand. Weil es verboten war, wurde es nun nachts und natürlich irgendwo in der Einsamkeit, weit weg von menschlichen Behausungen begangen. Den Christen erschien dieses Fest teuflisch, so wie die heidnischen Götter teuflisch waren und aus Furcht machten sie aus dem menschlichen Fest ein Hexen- und Teufeltreffen. So entstand die Sage von der Walpurgisnacht als eine Vorstellung, eine Erinnerung an eine tatsächliche historische Veränderung. Auch die Brockenmythologie ist ja der Versuch, mit phantastischen Gestalten eine wirkliche Veränderung zu erklären: die historische Ablösung des Matriarchats durch das Patriarchat, durch Herrschaft. Diese Veränderung ist nicht durch die bewusste Entscheidung der damaligen Menschen entstanden, sondern hat sich einfach so ergeben. Und das menschliche Vorstellungsvermögen findet im nachhinein Erklärungen für diese Veränderungen. Diese Erklärungen können durchaus unterschiedlich sein, wie wir ja am Beispiel von Prometheus und Pandora gesehen haben. Es kommt darauf an, ob Frauen oder Männer sich Vorstellungen machen und es kommt darauf an, wie viel wir wirklich wissen. Das menschliche Vorstellungsvermögen kann aber noch mehr: nicht nur sozusagen nach rückwärts sich vorstellen, wie Dinge sich entwickelt haben, sondern wir können uns auch vorstellen, wie die Dinge in Zukunft sein sollen, wie sie sich entwickeln sollen. Wir können „Das Mögliche von übermorgen“ denken. Und davon gibt uns I. Morgner eine Kostprobe auf der phantastischen Ebene ihres Romans. Amanda und die anderen Hexenhälften im Hörselberg proben den Aufstand gegen das Kolbuk-Regime, also gegen das Patriarchat. Sie wissen, dass Patriarchat und Herrschaft nicht naturgegeben sind, sondern historisch entstanden und also auch veränderbar. Dabei gibt es verschiedene Hexen-Fraktionen mit unterschiedlichen Strategien:

a) Da gibt es die HUU-Fraktion oder auch Rotrockfraktion, unter der Führung von 
  Isebel. Diese Hexen schätzen die von Männern entwickelte Kriegskunst und 
  wollen statt der Teufelsherrschaft eine Hexendiktatur errichten. Sie sind 
  männerfeindlich.
b) Dann gibt es die Grünröcke der Holletöchter, mit Hulle an ihrer Spitze. 
  Diese Fraktion weiß nur, was sie nicht wollen: sie wollen nicht sein wie die 
  Männer. Also wissen sie nicht, was sie wollen.
c) Die dritte Fraktion ist die Eulenfraktion unter der Führung von Amanda. 
  Diese Eulenfraktion ist androgyn und gefährlich, weil Amanda den Kampf gegen 
  das Patriarchat zusammen mit den Männern führen will, die früher wirkliche 
  Ketzer waren. 

Denn die Raben sind ebenfalls nicht eine homogene Masse, sondern auch dort gibt es Fraktionen:

a) Die Fraktion der „Konservativen Avantgarde“ sind Raben, die früher einmal 
  wirkliche Ketzer waren. Sie wollen mit Frauen nichts zu tun haben, dulden 
  aber Fraktionsmitglieder wie Konrad Tenner in ihren Reihen, die Hexen gerne 
  wie Hetären behandeln würden und die Fronverliese des Hörselbergs als 
  „Salons“ bezeichnen möchten“. 
b) Die Fraktion der „Neokonstruktivisten“ arbeiten an der Neukonstruktion des 
  Menschengeschlechts, mit dem Ziel der Optimierung. Sie wollen die Frauen 
  überflüssig machen. 
c) Die Fraktion der Gysotiker betreiben die Wissenschaft des Weisheitssports. 
  Sie beschäftigen sich nur noch mit der „Wissenschaft von der Messung des 
  wissenschaftlichen Verstandes“, von dem Frauen selbstverständlich 
  ausgeschlossen sind.

Amanda ist diejenige Hexe, die sowohl die Möglichkeit wie die dringende Notwendigkeit sieht, das Kolbuk-Regime, also das Patriarchat zu stürzen. Die Möglichkeit ist gegeben, denn es gibt Fraktionskämpfe zwischen den Raben, heftige Richtungskämpfe, die zu Unruhen geführt haben. Amanda glaubt, in Raben wie Konrad Tenner verbündete Männer gefunden zu haben; die sich auf die Seite der Hexen/Frauen stellen würden. Das herrschende Regime ist in sich gespalten, die äußeren Bedingungen (der objektive Faktor) für eine Revolution sind also günstig. Gleichzeitig gibt es zwar Fraktionskämpfe zwischen den Hexen, aber in einer Frage sind sie alle einige: sie wollen das Patriarchat stürzen. Ein von allen Hexenfraktionen aufgestelltes Hexenheer unter der Führung einer wiedervereinigten Laura/Amanda hätte gute Chancen – allerdings nur unter einer Voraussetzung: Amanda und Laura müssten wieder eine ganze Person sein. Der Wille nach Wiedervereinigung (subjektiver Faktor) von Laura und Amanda ist also die andere wichtige Voraussetzung für das Gelingen einer Revolution. Die Notwendigkeit für eine Revolution gegen das Patriarchat formuliert Amanda so: „Schloss Blocksberg mit Abteilung Hörselberg sorgt dafür, dass patriarchalische Gewohnheiten nicht aussterben. Ein Sozialismus aber, der die Männervorherrschaft nicht abschafft, kann keinen Kommunismus aufbauen“. Amanda drängt bei den verschiedenen Begegnungen mit Laura auf die Wiedervereinigung. Aber Laura will diese Vereinigung nicht. So dass am Ende des Romans Amanda zwar erfolgreich eine Revolution auf dem Blocksberg durchgeführt hat – aber diese Revolution hat eben nur in der Welt der Vorstellungen stattgefunden, nicht in der Realität. In der Realität ist die DDR, dieser Sozialismus mit Männervorherrschaft, folgerichtig untergegangen. Und es bleibt uns überlassen, Vorstellungen und Realität in Übereinstimmung zu bringen.


Anhang

Irmtraud Morgner: „Amanda“

31. Kapitel: Brockenmythologie

Am Anfang war Mutter Erde. Und sie wählte sich die Luft zum Gefährten und belebte den Planeten mit Pflanzen, Tieren und Menschen. Später wünschte sie sich Wesen, die Mutter und Vater ähnlich sahen, und gebar Töchter und Söhne. Da Luft unsichtbar ist, bezweifelte der Vater die Ähnlichkeit seiner Kinder mit ihm. Und er stritt mit seiner Frau. Um ihn zu besänftigen, zeigte ihm Mutter Erde ihren Zaubertopf und verriet die Kunst des Wünschens. „Laß mich probieren“, bat der Gatte, nahm den Topf und wünschte der Gattin einen Kerker, der aus ihr selbst gebildet war. Seitdem sitzt Mutter Erde eingesperrt. Und ihr Mann ist seiner Vaterschaft gewiss. Die Kinder aber vermissten die Mutter und suchten nach ihr. Der Vater musste fürchten, dass sie seine Tat entdecken würden. Aus Angst vor Strafe strafte er. Indem er auch seine Kinder einkerkerte. Danach nannte er sich „Vater Erde“. Die Kinder waren in Grotten gesperrt. Vater Erde lebte ruhig dahin. Zu ruhig, fand er bald. Und er schaffte Abwechslung, indem er seinen Namen wechselte. Ab und zu. Erinnerungen an seine Frau ließ er nicht aufkommen; doch der Streite mit ihr gedachte er sehnsuchtsvoll. Als ihn die Einsamkeit mehr als genug gelangweilt hatte, riß er sich in zwei Stücke und nannte die eine Hälfte Gott und die andere Teufel. Gleich stritten die Hälften derart, dass dem Ganzen die Lebenslust zurückkehrte. Am kurzweiligsten geriet die Unterhaltung, wenn eine Hälfte behauptete und die andere widersprach. Solche Erfahrung brachte die Hälften zu der Erkenntnis, dass Lust Arbeit macht und umgekehrt. Die Arbeit der Arbeitsteilung wurde durch Knobeln geschafft. Vor jedem Disput wurden die Rollen gerecht, das heißt, durch Zufall verteilt. Und Gott übte Behauptung und Widerspruch, und der Teufel war auch so tüchtig. Lange. Bis eines Tages Trägheit aufkam. Auch Gewöhnung machte zur Spezialisierung reif. Die beiden Hälften knobelten also ein letztes Mal, und der Zufall berief Gott zum Fachmann für Rechthaberei und den Teufel zum Fachmann für Widerspruchsgeist. Oh Luft, oh Zeit, die Fachmänner argumentierten, dass der Zaubertopf und die Kerkerwände von Mutter Erde wackelten. Die Steigerung der Unterhaltungslust wurde hauptsächlich durch Steigerung des Argumentiertempos erzeugt. Als der Temporausch verflogen war, fühlte der Rechthaber Langeweile. Als er die Herkunft der Langeweile erkannte und das Fach wechseln wollte, war es zu spät. Weil der Widerspruchsgeist da nämlich bereits ermessen konnte, was für ein kurzweiliges Fach ihm zugefallen war. Er verteidigte die Gunst des Zufalls gegen Bitten, Forderungen, Befehle, Drohungen und Erpressungen. Da sah Gott, was angerichtet war. Und er entschied sich für die Flucht nach vorn, wo der Fortschritt wohnt und die Spezialisierung noch verbessert werden konnte. Dergestalt, dass dem Rechthaber außerdem die Verwaltung des „Guten“ anheimfiel und dem Widerspruchsgeist die Verwaltung des „Bösen“. Beide Parteien zögerten nicht, aus diesen Nöten unverzüglich Tugenden zu machen. Indem sie sich moralisch bekämpften. Stellungskrieg. Eine Kriegsart, die gern von Festungen aus geführt wird. Die beiden Parteien verschanzten sich also. Gott über der Erde. Der Teufel unter der Erde. In den Kriegen zwischen Gott und Teufel ging der Zaubertopf zu Bruch. Jede Partei raffte davon, was noch greifbar war, und sammelte die Reste in goldene Töpfe. Gott nahm in seinen goldenen Topf Scherben in Verwahrung. Der Teufel sicherte sich in seinem goldenen Topf zwei Steine, einen roten und einen weißen. Die Pflanzen, Tiere und Menschen des Planeten bemerkten die Parteien nicht. Weil die Parteien unsichtbar waren. Das ärgerte die Ein-Mann-Parteien. Und sie verbreiteten die Legende, dass wirkliche Wirklichkeit unsichtbar wäre und wirkliches Leben mithin erst nach dem Tode begänne. Die Legende stattete die Ein-Mann-Parteien mit gestorbener Gefolgschaft aus. Fleißige Menschen wurden, gestorben, von der Legende zu guten Toten erklärt und Gott zugesprochen. Die bösen Toten sprach die Legende dem Teufel zu. Die unsichtbaren Sprecher fanden Gehör. Zuerst bei Mutter Erde und ihren Kinder. Dann bei den Menschen. Den Menschen gefiel die Kunde vom Fortleben nach dem Sterben, die tröstete und die Todesangst milderte. Und sie glaubten gern. Mutter Erde und ihre Kinder lachten und höhnten. So laut, dass Gott und Teufel fürchten mussten, die Menschen könnten ihren neugewonnenen Glauben wieder verlieren. Gott und Teufel befahlen den Eingekerkerten Stillschweigen. Vergebens. Sie erbaten Ruhe. Vergebens. Schließlich begegneten sie der Gefahr, indem sie ihre Kinder beteiligten. Die Söhne wurden gelobt, befreit, geteilt und als Statthalter Gottes beziehungsweise des Teufels eingesetzt. Die Töchter wurden getadelt und ganz und eingesperrt gelassen. Als Residenzen wurden Berge verteilt. Die Statthalter Gottes, Oberengel genannt, residierten über den Bergen, die Statthalter des Teufels, Oberteufel genannt, residierten drunter. Alle Statthalter waren verpflichtet, die Legende von der unsichtbaren Gefolgschaft Gottes beziehungsweise des Teufels zu propagieren. Zum Lohn erhielten sie das Recht, Legenden über sich zu verbreiten, und die Ehre, als Kerkermeister der Schwestern zu wirken. Gott beschenkte die Oberengel außerdem mit einem kleinen goldenen Topf, darin ein Stück Scherben lag. Der Teufel überreichte seinen Oberteufeln goldene Töpfe mit Steinsplittern. Alle Statthalter eiferten ihren Vorgesetzten nach, spezialisierten sich und bekämpften sich. Kein Wunder, dass viele Oberengel als Fachmänner für das Gute bald nichts mehr mit den getadelten Schwestern zu tun haben wollten und viele Oberteufel als Fachmänner für das Böse das Kerkermeisteramt schließlich allein versahen. Der Oberteufel Kolbuk vom Brocken jedenfalls bewachte seine Schwester Arke schon bald allein. Zur Zufriedenheit von Oberengel Zacharias vom Brocken. Und gemeinsam taten Zacharias und Kolbuk ihre Pflicht und verbreiteten die Legende von der unsichtbaren Gefolgschaft Gottes und des Teufels. Und die Menschen glaubten. Später eiferten sie den unsichtbaren Mächten nach. Den Frauen, mit Ackerbau und Kindern beschäftigt und so im Umgang stets mit Ganzheiten, fiel teilen schwer. Die Männer spezialisierten sich zuerst. Zu Fachmännern für das Gute. Weil die Legende von der unsichtbaren Gefolgschaft den Spezialisten für das Böse nach dem Sterben ein Weiterleben im glühenden Bauch des Planeten versprach. Den Spezialisten für das Gute dagegen war ein Weiterleben auf Wolken in Aussicht gestellt. Als die Frauen erkannten, was für sie übriggeblieben war, lehnten sie ab. Gutes kann sich aber nur im Kontrast zu Bösem als gut erweisen. Und da sich die Frauen nicht freiwillig spezialisieren wollten, mussten sie von den Männern schließlich in den Kerker des Tadels gesperrt werden. So wurde nach dem Vorbild der unsichtbaren Mächte Ordnung in die Menschheit gebracht. Und diese Ordnung heckte fort und spezialisierte die sichtbaren Fachmänner des Guten weiter. Zu sichtbaren Führern und sichtbaren Gefolgschaften. Führer und Gefolgschaften des Guten bekämpften einander unter Fahnen, die Besseres und Bestes versprachen. Frauen, die diese Ordnung anerkannten, wurde von ihr als Lohn ein Weiterleben auf Wolken in Aussicht gestellt. Männern, die diese Ordnung nicht anerkannten, wurde von ihr als Strafe ein Weiterleben im glühenden Bauch des Planeten in Aussicht gestellt. Lohn und Strafe verhalfen den Menschenköpfen zu Einsicht. Nur den Querköpfen nicht. Weil Querköpfe nicht an die unsichtbaren Gefolgschaften glaubten und ahnten, dass Gott und Teufel Ein-Mann-Parteien sind und ihre Oberengel und Oberteufel allein auf den Bergen residieren. Da die weiblichen Querköpfe vor dem Tod weniger zu verlieren hatten als die männlichen, probierten die weiblichen zuerst, ob die Ahnungen sich als wahr erwiesen. Die Frauen stiegen also auf die Berge und harrten der Heerscharen, die laut Legende die Residenzen bewachten und jeden Eindringling vernichten würden. Die Frauen harrten vergebens. Nur zwei Stimmen schimpften auf sie ein. Von oben eine und von unten eine. Gewöhnt an Beschimpfungen ließen sich die Frauen auf den Bergen nieder, genossen die Aussicht und erwählten die Gegend zum außerordentlichen Versammlungsort. Ordentliche Versammlungen in den Gegenden der Ordnung waren für weibliche Querköpfe verboten und für männliche gefährlich. Deshalb trafen sich auch die männlichen bald lieber heimlich auf den Bergen als ordentlich. In Ordnung ist das Mögliche von heute und morgen denkbar. Unmögliches, das heißt, das Mögliche von übermorgen, wird ordentlich als Unordnung empfunden und ist nur auf Bergen denkbar. Deshalb heißen diese Berge Zauberberge. Und die Besucher solcher Berge werden heute und morgen als Ketzer und Hexen bezeichnet und übermorgen als Weise. Alle Länder der Erde haben solche Zauberberge. Alle Sprachen haben für diese Berge schöne Namen. In deutsch heißt der Zauberberg Brocken oder Blocksberg. Gewisse Frauen pflegten dort Geselligkeit, sammelten Kräuter und Mineralien, kochten Arzeneien und versuchten etwas zu brauen, das die Ordnung verwünschen konnte. Den gewissen Männern, die den Bergsteigerinnen folgten, war Geselligkeit ordentlich nicht verwehrt. Deshalb konzentrierte sich das Interesse dieser Männer auf die anderen Tätigkeiten der Frauen. Und Männer und Frauen erkannten erfreut, dass ihre Ordnungsträume einander ähnelten. Diese Erkenntnis und ordentliche Gewohnheit führte die Männer zu dem Entschluß, Brauen in Regie zu nehmen. Während der Regiearbeit wurde die Brauarbeit zur Facharbeit spezialisiert. Und die Facharbeiter brauchten Platz, viel und immer mehr. Also, dass für die Frauen – seit Regiebeginn von den Männern als Zuschauer spezialisiert – nun kein Platz mehr auf dem Brocken war. Die Frauen wurden beurlaubt. Und zwei Stimmen lachten auf sie ein. Von oben eine und von unten eine. Die Frauen trauten ihren Ohren nicht. Dann wurden sie entlassen, und sie hörten weg. Dann vernahmen sie die Ausweisung und hielten die Stellung. Die Uneinsichtigkeit der Frauen erschütterte die Männer. Als die Facharbeiter verzweifeln wollten, wurde Hilfe angeboten. Von oben und von unten. Die Stimme von oben bot Zaubertopfstücke zum Geschenk an, die Stimme von unten Zaubertopfsteine. Zwei Zaubertopfsteine zum Brauen idealer Ordnungen, einen roten und einen weißen. Männer und Frauen vergaßen augenblicklich ihren Zwist, entschieden sich einstimmig für die Steine und wollten sie sehen. „Ihr könnt alles sehen, wenn ihr Gebrautes verschüttet“, sagte die Stimme von unten. „Wieviel“; fragten die Facharbeiter. „Eine Hälfte vom Gebrauten auf dem Brocken und eine Hälfte im Hörselberg.“ Die Facharbeiter beeilten sich. Zuerst auf dem Brocken. Da wurde der Oberteufel Kolbuk sichtbar. Menschenähnlich, doch gehörnt und geschwänzt. Und er führte die Männer und Frauen ab nach Süden. Dann verschütteten die Facharbeiter die zweite Hälfte im Hörselberg. Und da wurde auch der goldene Topf sichtbar. Geblendet von ihm nahmen Männer und Frauen Aufstellung. Oberteufel Kolbuk öffnete den Topf, zeigte die beiden Steinsplitter und beschrieb deren Eigenschaften und Verwendung.„Der rote Zauberstein kann Gold und Trinkgold machen und die Welt zu Füßen legen“, sagte Kolbuk. „Der weiße Zauberstein kann Silber und Trinksilber schaffen und entrücken und unteilbar machen.“ Die Männer und Frauen erklärten einstimmig, das Geschenk annehmen zu wollen. Der Oberteufel erklärte sie zu Gefangenen und zeigte das Verließ, in dem Arke eingekerkert war. Fluchtversuche der Gefangenen misslangen. Proteste verhallten wirkungslos. Kolbuk braute mit den Zaubersteinen Trinkgold und Trinksilber und zeigte den Gefangenen die Phiolen, bevor er die im goldenen Topf verschloß. Und er freute sich der gewonnenen Sichtbarkeit. Und er rühmte sich seiner Listen vor Oberengel Zacharias und kündigte an, bald eine sichtbare Gefolgschaft zu besitzen. Zacharias schmähte neiderfüllt. Kolbuk gewährte Amnestie. Für eine Art von Gefangenen. „Welche Art ist mir gleich“, sagte Kolbuk zu ihnen. „Die Wahl könnt ihr selbst treffen.“ Die Männer versprachen den Frauen, den weißen Zauberstein oder das Trinksilber nachzubauen und sie bald zu entrücken. Die Frauen glaubten ihnen. Kolbuk entließ die Männer und verlieh ihnen die Gabe, Rabengestalt anzunehmen. Und da flogen sie in Rabengestalt auf den Brocken und machten sich wie versprochen ans Werk. Als der weiße Zauberstein nicht gelingen wollte, versuchten sie, den roten nachzubauen. Und dieses Streben faszinierte sie so, dass sie nichts anderes mehr denken konnten. Es führte von der Alchemie zur Chemie, zur höheren Mathematik und über die Nachfolger- und Schülergenerationen zu all den anderen analytischen Wissenschaften, die heute existieren. Als die gefangenen Frauen im Hörselberg gestorben waren, spürten die Raben Gewissenserleichterung. Als nachfolgende Generationen von weiblichen Querköpfen versuchten, auch auf dem Brocken Fuß zu fassen, ergrimmte die Raben solche Störung, und sie baten sich bei Kolbuk Ruhe aus. Kolbuk sah sich um auf der Erde und konnte sich überzeugen, dass die Sitten fast alle Frauen früher oder später halbierten. Die unbrauchbaren Hälften dieser normalen Frauen verwelkten und vergingen ohne Rückstand. Die brauchbaren machten sich nützlich, ohne zu stören. Nur wenige Frauen, die also unnormal waren und deshalb Querköpfe genannt wurden, widerstanden der sittlichen Teilung. Kolbuk schaffte seinen Raben Ruhe, indem er die teuflische Teilung einführte. Die unbrauchbaren Hälften, die bei dieser Teilung abfielen und nicht vergingen, deponierte er im Hörselberg. Zuerst sammelte Kolbuk die Abfälle nur. Erst als er von der Sammlung nicht mehr absehen konnte, dachte er nach über die Verwertung. So kam ihm die Idee, aus der Mülldeponie einen Puff zu machen. Den Raben gefiel das Etablissement.