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Produktivkraft Sexualität

von Uschi Siemens

0.Einleitung

"Indes kann ich doch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß auch für die deutschen Sozialisten einmal der Augenblick kommen muß, wo sie dies letzte deutsche Philistervorurteil, die verlogene spießbürgerliche Moralprüderie offen abwerfen, die ohnehin nur als Deckmantel für verstohlene Zotenreißerei dient. (...) Es wird nachgerade Zeit, daß wenigstens die deutschen Arbeiter sich gewöhnen, von Dingen, die sie täglich oder nächtlich selbst treiben, von natürlichen, unentbehrlichen und äußerst vergnüglichen Dingen ebenso unbefangen zu sprechen wie die romanischen Völker, wie Homer und Plato, wie Horaz und Juvenal, wie das Alte Testament und die "Neue Rheinische Zeitung"" [1], schrieb Friedrich Engels 1833 seinen Genossinnen und Genossen in das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie. Wie Menschen ihre Sexualität leben und erleben, wie sich dabei das Verhältnis zwischen Frauen und Männern gestaltet, ist abhängig vom kulturellen Entwicklungsstand der Gesellschaft, in der sie leben und von den Sitten und Traditionen, die in dieser Gesellschaft vorherrschend sind. Fast 130 Jahre nach Engels´ Bemerkung hat sich in der DDR eine sozialistische Literatur entwickelt, die für sich selbst in Anspruch nimmt, "eine neue Sicht der Geschlechterbeziehung"[2] geschaffen zu haben. Diese neue Sicht der Geschlechterbeziehung beruht auf zwei wesentlichen Voraussetzungen. Sie geht einerseits von der Annahme aus, dass die sozialistische Gesellschaft mit der Überwindung der kapitalistischen Ausbeutungs- und Herrschaftsstrukturen konsequent neue, gewalt- und herrschaftsfreie Beziehungen zwischen Männern und Frauen möglich werden lässt. Andererseits beruft sie sich auf die politische und gesellschaftliche Bedeutung der Literatur in der DDR.

Gesellschaft und Emanzipation

Ursprüngliches Ziel der sozialistischen Gesellschaft war die Befreiung des Menschen von entfremdeter Arbeit und Herrschaftsstrukturen. Die freie Entfaltung eines jeden Individuums sollte erreicht werden auf der Grundlage einer abgesicherten sozialen und materiellen Existenz. Nach Friedrich Engels wird der Stand der allgemeinen Emanzipation einer gegebenen Gesellschaft gemessen am Grad der weiblichen Emanzipation, daher legte die Staatsführung der DDR besonderen Wert auf die Förderung der Gleichberechtigung der Frauen. Die massenhafte Einbeziehung in den ökonomischen Prozess sollte den Frauen ökonomische Unabhängigkeit und intellektuelle und politische Selbständigkeit garantieren und ihnen die Möglichkeit eröffnen, ihre Fähigkeiten und Talente zu entfalten. Juristische und soziale Grundlagen wurden zügig Schritt für Schritt geschaffen: So legte der Artikel 7 der Verfassung der DDR von 1949 den Gleichberechtigungsanspruch von Mann und Frau fest; das Gesetzbuch der Arbeit von 1961 schrieb Maßnahmen zur Entlastung der doppelbelasteten Frauen und Frauenförderpläne zur beruflichen Qualifikation der Frauen vor; das Familiengesetzbuch von 1965 erklärte alle Angelegenheiten des gemeinsamen Lebens wie Erziehung der Kinder, Führung des Haushalts oder den materiellen Unterhalt der Familie zu Rechten und Pflichten beider Ehegatten. Das Recht auf Arbeit war ebenso in der DDR-Verfassung verankert wie - seit 1972 - das Recht auf kostenlose Anti-Baby-Pillen und straffreien Schwangerschaftsabbruch. Durch sozialpolitische Maßnahmen wie Einrichtungen zur Kinderbetreuung, Kindergeld, Babyjahr, bezahlte Freistellung bei Krankheit der Kinder erreichte die DDR in den achtziger Jahren mit 78,1 Prozent den höchsten Beschäftigungsgrad von Frauen in der Welt. [3]

Diese durchgesetzten Maßnahmen zogen gravierende Veränderung im Geschlechterverhältnis nach sich. Ihre Wirkung zeigte sich nicht nur in der ebenfalls höchsten Scheidungsrate der Welt, sondern fand sein Echo auch in der Literatur.

Gesellschaftspolitische Funktion der Literatur

Die zweite wesentliche Voraussetzung, auf die sich eine "neue Sicht des Geschlechterverhältnisses" gründet, ist der gesellschaftspolitische Einfluss, den Schriftsteller wie Politiker der Literatur in der DDR zusprachen. Die Literatur der DDR verstand sich von Beginn an als politische Literatur. Sowohl die politische Führung der DDR wie auch viele Autorinnen und Autoren des Landes waren der Überzeugung, dass Kunst und Literatur Bewusstsein schaffen und verändern kann, dass sie Einfluss nehmen kann auf menschliches Denken und Handeln. Kunst und Literatur sollte und wollte - gerade nach den jüngsten Erfahrungen mit der faschistischen Vergangenheit - zur Entwicklung und Förderung eines fortschrittlichen, humanistischen und antifaschistischen Bewusstseins beitragen, in die gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Auseinandersetzungen eingreifen. Künstler und Literaten sollten und wollten mit ihren Werken eingebunden sein in den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess, ihn fördernd und kritisch begleitend; sie verstanden sich als - mehr oder weniger - kritische Mitgestalter einer neuen marxistischen Gesellschaftsordnung.

Den Aufbau einer neuen Gesellschaft literarisch zu begleiten, gleichzeitig zu reflektieren und zu interpretieren, war für Künstler und Schriftsteller ein Schritt in unbekannte Regionen, "ins unbeschrittene Territorium" [4], und dieser Prozess verlief nicht reibungslos. Eine Darstellung der Auseinandersetzungen zwischen Staatsführung und Literaten, der Einflüsse außenpolitischer Entwicklungen auf das innenpolitische Umgehen mit Kultur und Literatur würde hier zu weit führen; sie lässt sich umfassend nachlesen bei Wolfgang Emmerich.[5] Festzuhalten bleibt, dass die DDR-Führung die Literaturproduktion durch Verlagsgründungen, Organisationen, Stipendien, Schriftstellerheime etc. großzügig förderte, gleichzeitig benutzte sie den "sozialistischen Realismus" als kulturpolitisches Instrument, um eine Kunst- und Literaturproduktion in ihrem Sinne zu fordern. Experimente wie die "Bitterfelder Konferenz"[6] zeigen beispielhaft die Versuche der Parteiführung, Literatur inhaltlich zu beeinflussen und auf bestimmte Sujets zu verpflichten. Für die Schriftsteller bedeuteten die Auseinandersetzungen um den sozialistischen Realismus einen - nicht immer freiwilligen und oft schmerzhaften - Prozess der Selbstverständigung über die Eigengesetzlichkeit von Literatur.

Bis zum Ende der DDR blieb die Literatur "Seismograph gesellschaftlicher Beben"[7], sie macht nicht nur die Gefährdung des einzelnen Menschen, sondern der gesamten Menschheit durch Atomraketen, Atomkraftwerke, zunehmende Umweltverschmutzung ebenso zum Thema wie die Warnungen vor der wachsenden Kluft zwischen Volk und Parteiführung, vor der Resignation über das Nicht-Gebraucht-Werden, vor dem Rückzug in Nischen und dem Einrichten in scheinbaren Idyllen. Besonders die Gestaltung der Beziehungen zwischen Männern und Frauen und die Sexualität als Quelle von Produktivität und Unruhe spielen - sowohl kritisch als auch eher affirmativ - in der Darstellung - in der Literatur der DDR eine herausragende Rolle.

Produktivkraft Sexualität

Der Begriff der Produktivkraft entstammt der marxistischen Theorie. Für Marx bedeutet Produzieren im weitesten Sinne das Heraustreten der Menschen aus dem Tierreich: "Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst."[8] Das Produzieren von Lebensmitteln ist also das historisch erste und grundlegende menschliche Tun, das die äußere Natur wie auch die Natur des Menschen selbst verändert. Diesen Veränderungsprozess definiert Marx als Geschichte.

Produktivkraft ist diejenige Kraft, die den Unterschied zwischen Menschen und Tieren hervorbringt. Obwohl die Produktivkraft im Laufe der Geschichte ständig weiterentwickelt wird, beherrschen die Menschen diese Kraft nicht, denn sie unterliegt einer "naturwüchsigen Teilung der Arbeit"[9]. Aus der Teilung der Arbeit entsteht die kulturelle und soziale Rollenverteilung und - im Zusammenhang mit der Entstehung des Privateigentums - ein allgemeines Herrschaftsverhältnis und damit auch das Herrschaftsverhältnis zwischen Männern und Frauen. Privateigentum und Arbeitsteilung sind nach Marx die Ursachen dafür, dass jeder Mensch "einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit" hat, "der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht herauskann, (...) wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will."[10] Die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwingt die Menschen dazu, sich ihre Lebensmittel mit einer bestimmten Tätigkeit zu beschaffen und führt zu einer Subsumtion der Individuen unter ihre Tätigkeit. Die Menschen verkehren nicht als menschliche Individuen miteinander, sondern als Vertreter ihrer beruflichen oder geschlechtsspezifischen Funktion. Marx unterscheidet verschiedene "Momente" bei der Entwicklung der Produktivkraft, unter anderem auch das sexuelle Verhältnis zwischen Mann und Frau: "Das dritte Verhältnis, was hier von vorneherein in die geschichtliche Entwicklung eintritt, ist das, daß die Menschen, die ihr eigenes Leben täglich neu machen, anfangen, andere Menschen zu machen, sich fortzupflanzen - das Verhältnis zwischen Mann und Weib, Eltern und Kindern, die Familie."[11] Die Fortpflanzung, die zunächst Menschen und Tieren gemeinsam ist, betrachtet Marx als "ein doppeltes Verhältnis - einerseits als natürliches, andererseits als gesellschaftliches Verhältnis". Sexualität gehört nach der marxistischen Theorie zur Produktivkraft der Menschen. Auch die Sexualität ist von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bestimmt: Von den naturwüchsigen Gesellschaften bis weit in die kapitalistische Organisation der Produktion war das Geschlechterverhältnis ein Verhältnis von wirtschaftlicher Abhängigkeit, in dem die Frauen für Reproduktion und Kinderaufzucht verantwortlich waren, die Männer die Rolle des "Ernährers der Familie" innehatten.

Im Rahmen einer Entwicklung zur Befreiung der Menschen überhaupt und damit auch der Frauen, behauptete die DDR, diese Form des Geschlechterverhältnisses überwunden zu haben. Irmtraud Morgner beruft sich auf das Versprechen des Sozialismus, Entfremdungs- und Herrschaftsverhältnisse, insbesondere im Geschlechterverhältnis, aufzuheben. Auf der Grundlage der Marxschen Theorie entwickelt sie ihren Begriff der Produktivkraft Sexualität, der sich auf die schöpferischen, kreativen Potenzen aller wirklich befreiten Menschen bezieht. Sie definiert die Produktivkraft Sexualität als "eine kostbare Unruhe, die erotische Beziehungen ermöglicht, nicht nur zu Menschen, sondern auch zu Landschaften, Tönen, Farben, Gerüchen - zu Erscheinungen dieser Welt überhaupt. Ohne sie gibt es keinen Enthusiasmus, kein Feuer des Geistes, keinen Esprit. Kein Denker, kein Politiker, kein Wissenschaftler, kein Dichter, kein Komponist arbeitet nur mit dem Kopf. Er arbeitet als Ganzheit: der Kopf ist ein Teil seines Körpers, nicht sein Widersacher. (...). Das gilt für Frauen ebenso wie für Männer"[12]. Mit dieser literarischen Definition wirft Irmtraud Morgner einerseits die Frage auf, ob und inwieweit die Unterordnung der Menschen unter ihre sozialen und geschlechtsspezifischen Funktionen in der sozialistischen Gesellschaft tatsächlich aufgehoben ist und sie als Individuen ihre äußere und innere Natur zu beherrschen gelernt haben; andererseits liefert sie mit ihrer Definition einen Maßstab, an dem das Geschlechterverhältnis in der DDR-Literatur zu messen ist.

Vor dem Hintergrund dieser Aspekte untersucht die folgende Arbeit in sechs DDR-Romanen aus der Zeit von 1968 bis 1985, ob und wie sich die "neue Sicht des Geschlechterverhältnisses" bei der Darstellung von Sexualität und Beziehungen in der Literatur wiederfindet. Ein Zeitraum von fast zwanzig Jahren wurde gewählt, um eine mögliche Veränderung und Entwicklung in der Darstellung des Geschlechterverhältnisses überprüfen zu können. Die Auswahl von jeweils drei Romanen männlicher und weiblicher Autoren soll der Tatsache Rechnung tragen, dass schreibende Männer und schreibende Frauen beim Thema Geschlechterbeziehung unterschiedliche Akzente setzen. Die Romane werden in Einzeldarstellungen untersucht, um der Originalität jedes einzelnen Werkes gerecht werden zu können. Dabei werden in den Einzeluntersuchungen bestimmte Fragen die Untersuchung leiten und vergleichbar machen: Fragen nach der sozialen Herkunft der Hauptfiguren und ihr sich daraus ergebendes Verhältnis zu ihrem Staat; Fragen zum Verhältnis von Arbeit, Beruf und Beziehungsleben; das Verhältnis zum anderen Geschlecht und die konkrete Darstellung von Körperlichkeit und Sexualität. <math>Formel hier einfügen</math>

Fußnoten

  1. Friedrich Engels: Georg Weerth, der erste und bedeutendste Dichter des deutschen Proletariats, in: Marx-Engels-Werke Bd. 21, Berlin (DDR) 1973, S. 8.
  2. Eva und Hans Kaufmann: Glück ohne Ruh. Zur Darstellung der Geschlechterbeziehungen, in: Dies. (Hg.): Erwartung und Angebot. Studien zum gegenwärtigen Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in der DDR, Berlin 1976, S. 167.
  3. Vgl. "Ungleiche Schwestern? Frauen in Ost- und Westdeutschland. Anspruch und Alltag, Gemeinsamkeiten und Unterschiede". Ausstellungskatalog der gleichnamigen Ausstellung im Haus der Geschichte, Bonn, 1997.
  4. Hans-Dietrich Sander: Geschichte der Schönen Literatur in der DDR. Ein Grundriß, Freiburg 1972, S. 100.
  5. Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe, Leipzig 1997.
  6. Im Frühjahr 1959 veranstaltete der Mitteldeutsche Verlag eine Autorenkonferenz (I. Bitterfelder Konferenz) im Zusammenhang mit der von der SED und der staatlichen Plankommission in Leuna beschlossenen Entwicklung der chemischen Industrie in einem 7-Jahres-Plan. Auf dieser Konferenz wurden die "Kulturschaffenden" aufgerufen, in die chemischen Betriebe zu gehen und Probleme und Erfolge des Aufbaus zu beschreiben; gleichzeitig wurden die "Werktätigen" aufgerufen, über ihre Erfahrungen in den Betrieben zu schreiben. Vgl. Erhard H. Schütz/Jochen Vogt u.a. (Hg.): Einführung in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Band 3: Bundesrepublik und DDR, Opladen 1980, S. 229.
  7. Vgl. Wolfgang Emmerich: a.a.O., S.199.
  8. Karl Marx/Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke Bd. 3, Berlin (DDR) 1983, S. 21.
  9. Karl Marx/Friedrich Engels: a.a.O., S. 32.
  10. Karl Marx/Friedrich Engels: a.a.O., S. 33.
  11. Karl Marx/Friedrich Engels: a.a.O., S. 29.
  12. Karin Huffzky: "Produktivkraft Sexualität souverän nutzen". Ein Gespräch mit der DDR-Schriftstellerin Irmtraud Morgner, in: Jutta Menschik (Hrsg.): Grundlagentexte zur Emanzipation der Frau, Köln 1976, S. 327 - 33