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Produktivkraft Sexualität
von Uschi Siemens

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I. Günter de Breyn: "Buridans Esel"

Als Günter de Bruyns Roman "Buridans Esel"[1] 1968 in Halle erschien, wurde als das Neue und Besondere daran die Beschäftigung mit dem "Problemkomplex des Alltäglichen"[2] hervorgehoben. Übersehen haben östliche wie westliche Kritiker und Rezensenten die Tatsache, dass der Roman drei Jahre nach dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED von 1965 erschien. Die Konferenz, die unter dem Stichwort "Kahlschlag" in die Geschichte der DDR-Literatur eingegangen ist, beschäftigte sich hauptsächlich mit mangelhafter revolutionärer Wachsamkeit und Aufweichungserscheinungen im kulturellen Bereich. Erich Honecker kritisierte in seinem Bericht des Politbüros an das 11. Plenum, dass in der Literatur der DDR, wie auch in Filmen und Fernsehen "das menschliche Handeln auf sexuelle Triebhaftigkeit reduziert" werde und es an der Zeit sei, der "Verbreitung unkünstlerischer Machwerke, die zugleich auch stark pornographische Züge aufweisen", entgegenzutreten. Er definiert die DDR als einen "sauberen Staat", in dem es "unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und gute Sitte" gebe.[3] Günter de Bruyn stellt mit seinem Roman auf zweierlei Weise eine direkte Verbindung zu dieser Konferenz her: die erzählte Zeit im Roman umfasst den Zeitraum von November 1965 bis Frühjahr 1966, also genau den Zeitraum, innerhalb dessen das Plenum stattfand; mit der Geschichte eines Ehebruchs zielt er direkt auf Fragen nach dem Wesen sozialistischer Moral und zeigt die enge Verflechtung von Privatem und Gesellschaftlichem: "auch das Privateste, die Liebe, (wird) zum Gesellschaftlichen, weil ja die Charaktere, durch die sie entsteht, sich bekanntlich im Strom der Welt bilden und ihre Folgen fördernd oder hemmend die Umwelt berühren"[4].

1. Vorbestimmung und Willensfreiheit

Im Mittelpunkt des Romans steht der vierzigjährige Bibliothekar Karl Erp, Leiter der Bezirksbibliothek in Berlin. Er stammt aus ländlichem, ärmlichem Milieu, ist geboren in Alt-Schradow im Bezirk Frankfurt (Oder) und hat sich nach einer Ausbildung zum Gärtner im Betrieb seines Vaters an der Bibliotheksschule in Berlin qualifiziert. Von seinem konservativen Vater hat Karl Erp preußische Werte wie Fleiß, Ordnungssinn und Pflichtbewusstsein ebenso übernommen wie seine Fähigkeit, sich an wechselnde politische Obrigkeiten anzupassen. So wird der ehemalige Gärtner, Soldat und Kriegsgefangene Karl Erp Mitglied der FDJ, besteht das Examen an der Bibliotheksschule mit Auszeichnung, wird später, aufgrund seiner Erfahrungen mit dem Faschismus und der antifaschistischen Einstellung der Kommunisten, aber auch aufgrund der ersten wirtschaftlichen Erfolge des neuen Staates, Mitglied der SED.

Erp hat in seinem bisherigen Leben alles erreicht, was wünschenswert scheint: er hat eine Frau und zwei Kinder, Erfolg und Anerkennung in seiner Arbeit, lebt im Wohlstand mit Auto und Villa am Berliner Stadtrand, ist bei Kollegen und Genossen beliebt und geachtet. Dennoch ist ihm auf dem Weg zum Erfolg der Sinn des Lebens abhanden gekommen. Die Kehrseite der glänzenden Fassade sind sexuelle Stagnation im Eheleben, die er mit harmlosen Flirts zu kompensieren versucht; Fremdheitsgefühle den eigenen Kindern gegenüber; der Verlust früherer Begeisterung und des Idealismus, als Volksbibliothekar auf dem Land revolutionäre Kulturarbeit zu leisten.

Günter de Bruyn stellt seine Hauptfigur zwischen zwei Frauen. Verheiratet ist Erp mit Elisabeth, die ebenfalls eine Ausbildung als Bibliothekarin absolviert hat, und die er in der FDJ kennengelernt hat. Elisabeth stammt aus einer gutbürgerlichen Familie; ihr Vater "hat sich bei einer Westberliner Versicherungsgesellschaft in dreißig Jahren vom Lehrling zum Filial-Direktor hinaufgedient" (17), besitzt ein Haus im östlichen Dahlem an der Spree, das er Tochter und Schwiegersohn vermacht, bevor er als Rentner in den Westen geht. Elisabeth schämt sich ihres bürgerlichen Elternhauses, besonders aber ihrer Unwissenheit, ihrer fehlende Bildung. Sie hält Karl für "gebildeter, geschulter, beschlagener, erfahrener" (83) als sich selbst und ordnet sich ihm gerne unter. Sie übernimmt das Vorbild der Ehe ihrer Eltern, in dem die Unterordnung der Frau unter den Mann selbstverständlich war; Karl "sollte sein Wissen ausbreiten, damit ich es aufnehmen konnte, um ihm ebenbürtig zu werden" (85). Im Verlauf ihrer Ehe lässt die ständige Besserwisserei ihres Mannes, seine scheinbare intellektuelle Überlegenheit sie verstummen. Der einzige Bereich, in dem sie sich ihrem Mann überlegen fühlt, ist ihre Gebärfähigkeit. "Als sie den dicken Bauch vor sich her trägt, ist alles gut: Das konnte nur sie." (85) So übernimmt Elisabeth die bürgerliche Arbeitsteilung in der Ehe, sie wird Mutter und Hausfrau, nachdem sie ihr Examen gemacht hat. Sie hält ihrem Mann den Rücken frei und sieht sich selbst als "Trabant, der das größere Gestirn umkreist, umkreisen muss, weil das Gesetz, nicht der Natur, manchmal sogar das der Liebe, es befiehlt" (83). Elisabeth wird als naturverbunden und kreativ dargestellt; ihre Mitmenschen erleben sie als still, freundlich und gut, als unauffällige, zurückhaltende Schönheit; von manchen wird sie als temperamentlos oder sogar keusch charakterisiert. Ihre Unzufriedenheit mit ihrem Dasein als Hausfrau und Mutter empfindet sie nach zwölfjähriger Ehe als ein "Gefühl der Schwere" (13).

Verliebt hat sich Karl Erp in Fräulein Broder, eine attraktive, alleinstehende junge Frau, die vor ihrem Bibliothekarsexamen ein Praktikum in der Bibliothek ableistet. Fräulein Broder stammt wie Karl aus ärmlichen Verhältnissen, ihre Mutter arbeitet als Wäscherin und Putzfrau; ihr Vater schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Der Vater ist stolz auf seine Tochter, die "ihrer guten Zeugnisse wegen auf die Oberschule geschickt wird" (41) und ihr Abitur macht. Von ihrem Vater, der bei seinem ersten eigenständigen Besuch einer öffentlichen Bibliothek stirbt, erbt Fräulein Broder die Liebe zu Büchern und den Drang nach soziologischen Forschungen über die Auswirkungen von Literatur auf ihre Leser. Da sie schon früh "die Leitung der Familie de facto übernommen hat" (41), entwickelt Fräulein Broder Selbständigkeit und eine bestimmte Härte, eine Art Schutzpanzer gegen äußere Anfechtungen. Ehrgeizig und zielbewusst arbeitet sie auf ihren Beruf als Bibliothekarin hin. Aus der männlichen Perspektive gesehen wirken diese Eigenschaften eher negativ: So empfiehlt der Leiter der Bibliothekschule sie der Berliner Bezirksbibliothek als qualifizierte Praktikantin, die "mehr Intelligenz als Gemüt und Fleisch" (9) hat. Und auch Genosse Haßler, der Vorgesetzte von Karl Erp, hält Fräulein Broder für gemütskalt und intellektualistisch.

Günter de Bruyn stattet die Hauptfiguren seines Romans mit sehr ausführlichen Lebensläufen aus. Damit betont er die Geschichtlichkeit des Menschen, sein Gewordensein unter bestimmten Bedingungen. Er hebt sie dadurch aus der Menge des an eigenwilligen Figuren reichen Romans hervor und macht sie zu unverwechselbaren Individuen, die in ihrem Denken und Handeln geprägt sind von Einflüssen und Traditionen, deren Wurzeln bis weit in die Geschichte zurückreichen. Mit dem Titel des Romans verweist der Autor auf das philosophische Problem der Willens- und Entscheidungsfreiheit, das der mittelalterliche Philosoph Buridan am Beispiel des unentschiedenen Esels zwischen zwei gleichen Heuhaufen darzustellen versuchte. Jeder Mensch hat trotz aller Determination eine gewisse Willens- und Entscheidungsfreiheit; am Beispiel der beiden Frauenfiguren zeigt der Autor, dass und wie sich individuelle Entscheidungsspielräume eröffnen und genutzt werden können. Dagegen entpuppt sich seine männliche Hauptfigur als "Esel", der sich jeglicher eigener Entscheidung und damit verbundener Selbstbestimmtheit konsequent verweigert.

2. Selbsttäuschung als Lebensprinzip

Karl Erp befindet sich zu Beginn der Handlung im Zustand einer "ununterbrochenen Anpassung"[5]. Seine innere Unsicherheit kompensiert er mit strengen Ritualen und übertriebenem Ordnungssinn. Die Anpassung an Autoritäten wie Eltern, Schwiegereltern und Partei hat ihm gesellschaftlichen Erfolg und Anerkennung eingebracht, gleichzeitig ist dadurch jedoch "sein menschlicher Kern angegriffen und zerstört"[6]. Er versucht, "sich um jede Entscheidung herumzudrücken" (209) und wartet lieber auf das "Eingreifen höherer Mächte" (203). Karl Erp ist nicht in der Lage, ehrlich zu sein, weder zu sich selbst noch anderen Menschen gegenüber. Er ist "ein Meister der Selbstrechtfertigung" (133), der sich möglichst nie so zeigt, wie er wirklich ist, sondern so, wie er glaubt, dass es von ihm erwartet wird oder dass es ihm nützlich sein kann.

So kann Karl Erp beispielsweise weder vor sich selbst noch vor seinem Vorgesetzten und Genossen Haßler zugeben, dass er ein sehr persönliches, sexuell bestimmtes Interesse an der Festeinstellung der Praktikantin Broder in die Bezirksbibliothek hat. Haßler, der gegen die Einstellung der jungen Frau plädiert hat, ist ehrlich genug, einzugestehen, worin sein Widerstand begründet liegt: er fühlt sich ihr körperlich und intellektuell unterlegen. Ihm ist bewusst, dass Personalentscheidungen, die von Männern getroffen werden, immer mit dem Risiko behaftet sind, "vom Geschlechtstrieb mitbestimmt" (21) zu werden. Erp jedoch beharrt darauf, dass seine Entscheidung lediglich von rein objektiven und sachlichen Gründen bestimmt ist.

Erps Frau Elisabeth erkennt am völlig veränderten Verhalten ihres Mannes sehr schnell die Ernsthaftigkeit der Gefühle Erps für die Praktikantin Broder. Ihren Kommentar zu der Schilderung seines ersten Besuches bei Fräulein Broder: "Du hast dich also verliebt" (53), wehrt Karl Erp "ehrlichen Herzens" als "Blödsinn" (57) ab. Er täuscht sich selbst in dem Glauben, dass er mit der Kollegin nur "einen nicht gar so verbindlichen Ehebruch" (57) begehen wollte. Elisabeth dagegen empfindet bereits zu diesem Zeitpunkt die Bedrohung ihrer Ehe als so stark, dass sie anfängt, sich Gedanken um Trennung und ihre berufliche Zukunft zu machen.

Angepasstheit und Selbsttäuschung als Wesenseigenschaften ziehen ein pragmatisch-taktisches Verhältnis zu anderen Menschen nach sich. Erp sucht und findet immer andere Menschen, denen er die Verantwortung für sein Handeln oder auch Nicht-Handeln zuschieben kann. So wie er sich einredet, dass er seiner Frau zuliebe "das Kreuz des Besitzes auf sich geladen, seine Freiheit geopfert, Jugendträume begraben" (18) hat, gibt er später der Eigenständigkeit und Entscheidungsfreudigkeit Fräulein Broders die Schuld am Scheitern ihrer Beziehung. Er benutzt die aus dem Westen angereisten Schwiegereltern, um bewusst einen politischen Streit anzuzetteln, der ihm als Alibi dient, um am Weihnachtsabend die Familie zu verlassen. Nur so kann das erlösende Zusammentreffen mit Fräulein Broder stattfinden.

Ein besonderer Aspekt der taktischen Einstellung zu Menschen ist Erps Haltung zu Frauen. Sie ist gekennzeichnet durch eine traditionell patriarchalische Überheblichkeit[7]. An seiner Frau Elisabeth "liebte er damals ihre Schwächen" (84), er lässt es sich "im wärmenden Schein ihrer Liebe wohlsein" (78) und ist zufrieden mit ihr als Mutter seiner Kinder. Er liebt seine Frau, weil sie "nie lästig wurde, sich ihm nicht aufdrängte, ihn nicht einengte" und sich "erstaunlich gut auf ihn und seine Arbeit eingespielt hatte" (15). Berufstätige Frauen ohne Mann und Kinder, wie einige seiner Bibliothekskolleginnen, hält er für "komische Figuren" (27), die sich durch "Verzicht auf Ruhm, Anerkennung, Aufstieg" und durch "Mangel an Ehrgeiz und die Bereitschaft zum Dienen" auszeichnen (28). Fräulein Broder behandelt er zunächst "wie ein kleines Mädchen (...), das auf Flirt und Männer aus ist und einen starken, überlegenen, zu jeder Schandtat bereiten Mann bewundern will" (70). Als sie seinen ersten sexuellen Annäherungsversuch abwehrt, versucht er mit Gewalt zum Ziel zu kommen, weil er "nicht loskam von dem Glauben, dass Frauen bezwungen sein wollen" (94). Ihre anfängliche Ablehnung, sich auf einen Flirt oder gar auf die Rolle seiner Geliebten einzulassen, kränkt hauptsächlich seine Eitelkeit.

Erst als er ihr am Weihnachtsabend endlich ohne sein Imponiergehabe, ohne steife Männlichkeit und "maskenlos" (134) begegnet, sie nicht als Sexualobjekt, sondern als Mensch wahrnimmt und sich ihr so zeigt, wie er ist, kann Fräulein Broder sich auf eine Beziehung mit Erp einlassen. Da Erp aber - im Gegensatz zu Elisabeth - nicht darüber nachgedacht hat, welchen Anteil sein Verhalten, seine Vorurteile gegenüber Frauen, seine Machtansprüche beim Scheitern seiner Ehe hatten, kann er auch in der neuen Beziehung nicht aus seinen Fehlern lernen. Ungebrochen versucht er, sein patriarchalisches Verhalten auch in der neuen Beziehung durchzusetzen, nicht offen, sondern versteckt durch ständige Rücksichtnahme, "denn so wurde er zum Märtyrer und sie zur Schuldnerin" (174). Mit Fräulein Broders Unabhängigkeit und Selbständigkeit kann Erp nicht umgehen, "mehr noch als die gewohnte häusliche Bequemlichkeit fehlt ihm der "Komfort" widerspruchslosen Einverständnisses"[8]. Er möchte in der neuen Beziehung den alten Zustand seiner Ehe wieder herstellen und träumt von Fräulein Broder mit den Eigenschaften Elisabeths: zurückhaltend, ohne Ehrgeiz, anpassungsfähig und dienstbereit.

Zu Erps Angepasstheit und Autoritätsgläubigkeit gehört auch eine taktische Passivität, die verhindert, eigene Entscheidungen zu treffen und Verantwortung dafür zu übernehmen. Erps Erkenntnis seiner Liebe zu Fräulein Broder führt zu Trennung von Frau und Familie und zum parteiöffentlichen Bekenntnis seiner Liebe, ändert aber nichts an Heuchelei und Selbstbetrug. Der Umzug in das Berliner Hinterhauszimmer Fräulein Broders ist die einzige Aktivität, die Karl Erp zum Gelingen der neuen Beziehung beiträgt. Alle weiteren Gelegenheiten, die persönlichen, politischen und beruflichen Probleme zu lösen oder zu klären, die durch die Liebesbeziehung zwischen Chef und Praktikantin entstanden sind, nutzt er nicht, sondern wartet passiv ab. Über einen gemeinsamen beruflichen Neuanfang irgendwo auf dem Land diskutiert er nicht mit seiner Geliebten, er "nahm das nicht ernst" (158). Die Scheidung, die sowohl Elisabeth wie auch die Parteigenossen vom ihm erwarten, reicht er nicht ein. Erp ist nicht wirklich bereit, Konsequenzen zu ziehen. Er will weder seine gesellschaftliche Stellung noch die damit verbundene Machtposition noch sein Wohnrecht in Berlin aufgeben. Er verschweigt der Freundin und Geliebten, dass die Partei ihnen durch seine Beförderung ins Ministerium für Kultur die Möglichkeit eröffnet, gemeinsam in Berlin leben und arbeiten zu können. Bis zum Tag ihrer Abreise aus Berlin lässt er sie im Unklaren darüber, dass er zu seiner Familie zurückkehren will. Er lässt andere Menschen oder "die Umstände" entscheiden, entledigt sich damit jeglicher Verantwortung, aber auch jeder Form der Selbstbestimmung.

Den Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Selbsttäuschung, zwischen Wahrheit und Selbstbetrug unterstreicht Günter de Bruyn durch das Stilmittel der wörtlichen Rede. Der ständige Wechsel von inneren Monologen und Selbstrechtfertigungen, von indirekt wiedergegebenen Unterhaltungen und Gesprächen, von Erzählerkommentaren und Milieuschilderungen zwingt den Leser, Erps Verschleierungstaktik sich selbst gegenüber mit zu vollziehen. Erst in der wörtliche Rede, im direkten Gespräch, werden von den anderen Figuren der Geschichte die Wahrheiten ausgesprochen, die Erp nicht als solche wahrhaben will. Wenn Sprache und Gespräche für die anderen Beteiligten das Mittel sind, sich über sich selbst und ihr Handeln bewusst zu werden, so bleibt Erp im entscheidenden Gespräch über seine Zukunft in der Silvesternacht stumm (168).

Günter de Bruyn zeichnet eine Hauptfigur, die entschieden jede persönliche Entwicklung verweigert. Er zeigt Karl Erp als einen Mann, dem in der Begegnung mit der ernsthaften jungen Frau Broder seine eigene Mittelmäßigkeit, seine Feigheit, Angepasstheit und Passivität bewusst wird. Erp erkennt seine persönliche Stagnation und geistige Erstarrung, die er aber weder artikulieren noch verändern kann und will. Die Liebe zu Fräulein Broder, eine Entscheidung für die neue Beziehung würde ihn am Stehenbleiben und sich Anpassen hindern. Eine solche Entscheidung müsste zu Veränderungen und persönlicher Entwicklung führen. Nach mittelalterlicher, aristotelischer Philosophie ebenso wie nach sozialistisch-realistischen Literaturkriterien müsste sich Karl Erp für das entscheiden, was die Vernunft als das größere Gut erkennt. Aber Karl Erp möchte "bald wieder der alte" (247) sein. Dass diese Entscheidung gegen sich selbst von der SED mit der Beförderung vom Bibliotheksleiter zum Ministeriumsangestellten honoriert wird, macht einen großen Teil der Ironie, aber auch der Kritik des Romans aus. Die inneren Gründe, die Erp zu seiner subjektiven Entscheidung führen, folgen einem Verhaltensmuster, das sich in der Realität objektiv bewährt hat: Anpassung wird belohnt.

3. Die weibliche Perspektive

Das um fast zwanzig Jahre jüngere Fräulein Broder repräsentiert nicht nur die nächste Generation, die mit Möglichkeiten aufgewachsen ist, die für ihre Eltern noch undenkbar waren. Sie steht auch für eine neue Generation von Frauen in der DDR, die große Erwartungen an Selbstverwirklichung im Beruf haben. Sie lebt allein, ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht ist distanziert, da sie mit Männern hauptsächlich Enttäuschungen erlebt hat. Ihrer Erfahrung nach sind Männer eitel und selbstsüchtig, ständig darum bemüht, bestimmten Rollenklischees zu entsprechen. Ob sie als "Ritter ohne Furcht vor Tod und Teufel, Zyniker aus Angst vor dem eigenen Gewissen, Roboter ihres Ehrgeizes, Melancholiker im Suff, Souveräne im Frauengemach" (70) auftreten, sie lassen sich nicht gern hinter die jeweilige Maske blicken. Um ihre Energien nicht im sinnlosen Kampf um Selbstbehauptung an der Seite solcher "Protze" (70) zu verschwenden, hält Fräulein Broder vorsichtig und kühl Abstand.

Gleichzeitig empfindet sie ihre Einsamkeit auch als Mangel und wünscht sich eine Beziehung, Wärme, Schutz und Geborgenheit. Ihre Vorstellung einer gleichberechtigten Partnerschaft findet sie in der Ehe von Ella und Fred Mantek modellhaft verwirklicht: Eine "Gemeinschaft ohne Abhängigkeit, Nebeneinander zweier Souveräne ohne Machtkämpfe, schönes Gleichgewicht der Kräfte, zwei Mittelpunkte, deren Kreise sich ohne Komplikationen überschneiden, zwei Sonnen an einem Himmel, zwei ineinandergewachsene Bäume, die sich gegenseitig kein Licht wegnehmen und gleichzeitig hoch und breit werden." (160) Eine solche gleichberechtigte Partnerschaft setzt Änderungen der althergebrachten Arbeitsteilung, Reflexion und Diskussion über eigene Verhaltensweisen, Vorurteile und Denkmodelle voraus. Fräulein Broder kann sich auf eine Liebesbeziehung mit Karl Erp erst einlassen, als er seine Maske fallen lässt, als er aufhört, ihr in der Rolle des väterlichen Chefs oder des sexuellen Eroberers zu begegnen. Sie ist neugierig auf den wirklichen Karl Erp und "glücklich" (150) über gemeinsam gelebten Alltag. Flexibel und unkompliziert versucht sie nicht nur, Karl Erp in ihr bisheriges Junggesellinnen-Dasein zu integrieren, sondern entwirft auch Zukunftspläne über einen gemeinsamen neuen Anfang außerhalb Berlins. Dem zögerlichen Bemühen Karls, keine endgültigen Entscheidungen zu treffen, setzt sie die eigenständige Entscheidung entgegen, sich statt des zweiten Praktikanten in den Landkreis Angermünde versetzten zu lassen. Dort erhofft sie sich "mit ihm zusammen Neuland zu betreten" (158), unbelastet von seinem bisherigen Leben einen Neuanfang zu machen. Die Weigerung Karls, sich tatsächlich für sie, ihre Beziehung und einen neuen Wirkungsort zu entscheiden, enttäuscht und verletzt Fräulein Broder sehr. Aber ihr ist auch bewusst, dass sie in der kurzen Zeit ihres Zusammenlebens mit Karl Erp bereits angefangen hat, sich zum Negativen zu verändern. Ihre Direktheit und Offenheit hat sie sich "unter Schwierigkeiten" (200) abgewöhnt; seine Eifersucht zwingt sie zu Verteidigungserklärungen; um Streit zu vermeiden, lernt sie zu schweigen und nimmt sich selbst zurück, um ihn bei guter Laune zu halten. Sie hat begonnen, sich in eine Abhängigkeit zu begeben, "die ihrem Wesen und ihren Absichten widersprach" (200). Der Schmerz über die Trennung ist für die junge Frau verbunden mit der Enttäuschung über die Erkenntnis, dass eine gleichberechtigte Partnerschaft nach ihren Vorstellungen durch Erps Unehrlichkeit und Heuchelei nicht möglich ist.

4. Die Bedeutung der Arbeit und der Partei

Die Berufstätigkeit bedeutet für Karl Erp und die anderen Männer des Romans, soweit sie Genossen sind, nicht nur die materielle Absicherung ihres Lebensstandards. Für die Position als Leiter der Bezirksbibliothek ist sowohl seine fachliche Qualifikation ausschlaggebend als auch seine Parteimitgliedschaft. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands als "führende" Partei im Staat entscheidet, sowohl in der Realität der DDR wie auch in der literarischen Fiktion, durch ihre Parteigruppen und Kaderleitungen über die Besetzung von Posten und Positionen. Die Partei erwartet und honoriert dabei nicht nur ausgezeichnete fachliche Leistungen, sondern auch politisches Wohlverhalten, also das "richtige" Vertreten der jeweils geltenden politischen Linie und der moralischen Vorstellungen.

In Günter de Bruyns Roman sind die Genossen Erp, Haßler und Mantek alle auf unterschiedlichen Ebenen im kulturellen Bereich des Bibliothekswesens tätig. Öffentliche Bibliotheken hatten die Aufgabe und den Auftrag, der Bevölkerung einen allgemeinen Zugang zu Bildung und Kultur zu gewährleisten, sie waren auf ein humanistisches Bildungsideal verpflichtet und sollten einen politischen Bildungs- und Erziehungsauftrag erfüllen. "Politisches Engagement[9] des Bibliothekars war in diesem politisch sensiblen Bereich gefragt. Alle drei Männer sind damit der Verquickung von Arbeit und Parteipolitik ausgesetzt. Die deformierenden Auswirkungen dieser Verquickung beschreibt der Autor an Karl Erp sehr ausführlich, bei Haßler deutet er sie nur an. Ist es bei Karl Erp die Störung des Verhältnisses zu sich selbst und seinen Bedürfnissen, so betäubt Haßler seine Unruhe und Schlaflosigkeit mit Alkohol. Er trinkt, weil "er im Rat des Stadtbezirks für Kultur zuständig (...) war" (20). Karl Erp befindet sich noch am unteren Ende der Stufenleiter, Mantek dagegen ist schon ganz oben in der Nähe der Macht angekommen. An ihm macht der Autor deutlich, für welches Ziel sich alle Bemühungen lohnen könnten: Mantek ist beim Kulturministerium für Allgemeinbildende Bibliotheken zuständig, er lebt mit seiner Frau Ella in einer stilvoll und teuer eingerichteten Hochhauswohnung in der Karl-Marx-Allee und vor allem: er und seine Frau "wußten mehr, als in der Zeitung stand" (163). Er hat die Macht, über die Zukunft von Erp und Fräulein Broder zu entscheiden und vertritt am deutlichsten die moralische Position der Partei. Die Parteigenossen haben eine Vorbildfunktion, nicht nur im Beruf, sondern auch im Privatleben. Er wirft Karl Erp vor, ein schlechtes Vorbild zu sein, weil er als Leiter der Bibliothek ein Verhältnis mit einer abhängig beschäftigten Praktikantin angefangen hat; er hält Erp für einen Spießer, der seine Ideale verraten habe, der "einer jüngeren wegen Frau und Kinder im Stich" (167) lassen will und "sich jetzt noch zu Haus und Auto die Geliebte" (166) anschaffen will. Erst als er mitbekommt, dass Erp seine Familie verlassen hat, sich scheiden lassen will und zugunsten von Fräulein Broder auf die Stellung als Leiter der Bezirksbibliothek verzichten will, setzt er sich erfolgreich dafür ein, dass Erp einen Posten im Ministerium in Berlin bekommt. Die Beförderung soll "Charakterfestigkeit, Konsequenz, Ernsthaftigkeit" und die Tatsache belohnen, dass Erp "Inaktivität und Resignation überwunden und früheren Elan und Mut wiedergewonnen" (220) habe.

Wie stark der Einfluss der Partei auf Erp und sein Verhalten ist, zeigen zwei weitere kleine Szenen. Als Erp, mit einer Flasche Importwodka ausgerüstet, zum ersten Mal Fräulein Broder besucht, um sie zu einem sexuellen Abenteuer zu verführen, stellt sie ihm die Frage nach seiner Parteimitgliedschaft. Sie will nicht wissen, aus welchen Gründen er früher einmal eingetreten ist, sondern warum er jetzt, also im Dezember 1965, in der Partei ist. Diese Frage vertreibt - vor dem Hintergrund des gerade stattfindenden 11. Plenums der Partei - nicht nur jegliche erotische Atmosphäre, sondern führt dazu, dass Erp, peinlich berührt, diese Frage nicht beantworten zu können, verärgert nach Hause fährt. Eine zweite peinliche Situation schließt sich an, als Erp im Wartezimmer des Rechtsanwaltes sitzt, bei dem er seine Scheidung einreichen will. Er wird dort von einem kleinen Mädchen auf sein Parteiabzeichen angesprochen und gefragt, ob er sich etwa auch scheiden lassen will. Vor der Öffentlichkeit der anderen wartenden Personen, die schadenfroh zur Kenntnis nehmen, dass auch Parteigenossen nicht vor Problemen in ihrem Privatleben gefeit sind, verlässt Erp fluchtartig das Wartezimmer.

Männer wie Erp kompensieren Angst und Unsicherheiten durch das Anstreben von (immer mehr) Macht innerhalb der Strukturen der Partei. Bei den Frauenfiguren des Romans spielt das Verhältnis zur SED oder einer anderen Partei keine so große Rolle; von Elisabeth Erp ist nicht bekannt, ob sie Mitglied der SED ist, von Fräulein Broder wird explizit gesagt, dass sie "eine Parteilose" (64) ist. Der Beruf hat statt dessen für beide Frauen um so größere Bedeutung.

Für Fräulein Broder hat sich "die Freude an der Arbeit und an allem, was mit ihr zusammenhing" (59) als etwas erwiesen, das "über alle Enttäuschungen hinweg" beständig geblieben ist. Sie hat sich schon früh das Ziel gesteckt, über die Wirkung von Literatur auf Menschen zu forschen; nach ihrer Ausbildung als Bibliothekarin und einigen Jahren Arbeitspraxis will sie studieren. Über die Arbeit ist sie überhaupt erst auf Karl Erp aufmerksam geworden; bei den Forschungen zu ihrem Thema sind ihr seine sachkundigen, engagierten Artikel in Fachzeitschriften vergangener Jahre aufgefallen. Sie "hat sich nach Erp erkundigt" und sich bemüht, "an seine Bibliothek zu kommen" (61), weil sie von seinem Fachwissen profitieren möchte. Sie hat enorme Kenntnisse als Freihandexpertin und leistet "einzigartige Katalogarbeit" (7), auch ihr Examen an der Leipziger Bibliothekarschule absolviert sie mit der Bestnote. Aus ihrer Arbeit und ihrer Qualifikation bezieht sie ihre Sicherheit, finanzielle Unabhängigkeit, ihr Selbstwertgefühl und ihren Stolz. Ihre Entscheidung, statt des zweiten Praktikanten Kratzsch die Stelle im Landkreis Angermünde anzunehmen, zeigt, dass ihr eine Integration von Beruf und Beziehung wichtiger sind, als in Berlin, dem Zentrum der politischen Macht, zu bleiben.

Auch für Elisabeth ist die Möglichkeit, in ihren alten Beruf als Bibliothekarin zurückkehren zu können, eine Hilfe bei der Bewältigung der "höllischen Seelenpein" und des "anhaltenden Schmerzes" (149) über den Zusammenbruch ihrer Ehe. "Mit der Hoffnung auf erneute Menschwerdung durch Arbeit" (223) ist sie in ihren alten Beruf zurückgegangen, wird aber mit dieser Arbeit nicht glücklich, weil sie dort nicht als eigenständige Person, sondern immer als die Frau des Kollegen Erp wahrgenommen wird. Sie wird sich durch Abendkurse und Fernstudium für das Spezialgebiet einer Kunstwissenschaftlerin qualifizieren, um sich selbst und ihrem Mann zu beweisen, was in ihr steckt, und ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Beiden Frauen geht es bei der Arbeit mehr um ihr Selbstwertgefühl und ihre finanzielle Unabhängigkeit als um Hierarchien und politische Macht.

In de Bruyns Roman deutet sich bereits eine Trennung der männlichen und weiblichen Lebenswelten an, eine unterschiedliche Gewichtung der Berufstätigkeit und ihre Bedeutung für die persönliche Entwicklung, die sich in den folgenden Romanen noch deutlicher herauskristallisieren wird. Die beiden Frauen dieses Romans gehen als moralische Siegerinnen aus der Geschichte hervor. Die Frauen sind - sowohl in der Wirklichkeit wie in der Fiktion - diejenigen, die sich in den sechziger Jahren am stärksten in Übereinstimmung mit der marxistischen Theorie befinden. Sie erleben, dass die nicht entfremdete Arbeit dem Menschen die Möglichkeit zur Entfaltung aller seiner Fähigkeiten und Talente, und damit auch seiner persönlichen, individuellen Entwicklung, bietet.

5. Körperlichkeit, Sexualität, Liebe

Ein Roman über das Thema Ehebruch lässt erwarten, dass Sinnlichkeit, Erotik und Sexualität im Mittelpunkt der Darstellung stehen. Im Gegensatz zu dieser Erwartung sind Günter de Bruyns Figuren seltsam körperlos, wie die ganze Literatur der sechziger Jahre "eine im wörtlichen Sinn körperlose Literatur"[10] ist. Von Karl Erp erfährt man nur, dass er 40 Jahre alt ist und einen Bauchansatz hat, von Fräulein Broder, dass sie eine schöne Frau mit "vielbewunderten Lippen" (58) ist. Eine ihrer erotischen Gesten ist es, sich beim Zuhören ständig die Augenbrauen glatt zu streichen. Aus Mangel an Körperlichkeit findet eine Annäherung des Liebespaares zunächst auf der intellektuellen Ebene statt. Wie später in "Neue Herrlichkeit"[11] ein Kohleofen, ist es in "Buridans Esel" ein Kachelofen, der mit seiner Wärme eine körperliche Annäherung der Verliebten ermöglicht und den Funken des körperlichen Begehrens überspringen lässt. Letztlich ist es eine kleine, sanfte körperliche Berührung Karls, die Fräulein Broder "überwältigt" (93), ihre Sinnlichkeit weckt und ihr ihre Sehnsucht nach lustvoller Sexualität bewusst macht. Die junge Frau kann ihren Lustgefühlen jedoch nicht so einfach nachgeben wie ihr männliches Gegenüber, denn ihre Sinnlichkeit "ist nicht frei" (96). Sie kann sich in einer von Männern wie Erp dominierten Welt nicht "von Gefühlen treiben" (96) lassen, weil sie sich dadurch in die demütigende und entwürdigende Situation einer heimlichen Geliebten begibt, "sich billig macht" (98). Damit würde sie die Achtung vor sich selbst und gleichzeitig den Respekt Erps verlieren, denn nach den Regeln einer patriarchalischen Logik lässt nicht schnelle Hingabe, sondern hinhaltende Verweigerung "die Liebe (...) stetiger brennen" (98). Auch die Verantwortung für Verhütung und für die möglichen Folgen einer sexuellen Vereinigung bleibt traditionell den Frauen überlassen. Die Alternative, ihre Lust und Sinnlichkeit zu unterdrücken und allein zu bleiben, macht ihr aber ihren Körper zum Feind: in ihm äußert sich die nicht gelebte, verdrängte Sexualität als unkontrollierbarer Trieb, als etwas Bedrohliches, "das revolutionieren, mächtig werden, ihren Willen lenken könnte in eine Richtung, in die sie nicht wollte" (126). Gleichzeitig lässt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen unterdrückter Sexualität und Krankheit: Das Nicht-Ausleben der eigenen Sexualität, "Liebesentzug und unterdrückte Leidenschaft"[12] führen dazu, dass Fräulein Broders wichtigstes Organ, das Herz, nicht in Ordnung ist und sie zehn Tage von der Arbeit fernhält.

Dass Sexualität eine Kraft ist, die zusätzliche Energien freisetzt, erleben beide Protagonisten, nachdem sie in der Weihnachtsnacht zum ersten Mal eine körperliche und geistige Vereinigung erlebt haben. Bei Karl äußert sich die neue Energie in der Arbeit, er ist "aus jahrelanger Lethargie erwacht" (98) und setzt lange verschobene Projekte in der Bibliothek in Gang. Bei Fräulein Broder fällt eine allgemeine Veränderung ihres Wesens auf, Liebe und erfüllte Sexualität haben "ihr Innerstes geöffnet für Wärme, Schönheit, Güte, Fröhlichkeit" (162), sie hat sich "enthärtet" (228).

Günter de Bruyn erhebt den Anspruch, in seinem 13. Kapitel die berühmte "Lücke" (135) zu schließen, die in Romanen häufig dann entsteht, wenn es um die Beschreibung einer sexuellen Vereinigung geht. Er will das individuelle Erleben, die "spezielle Erp-Broder-Wirklichkeit" nicht durch die subjektiven Vorstellungen des Lesers oder der Leserin beeinträchtigen lassen. Dennoch gelingt ihm gerade die konkrete Darstellung der körperlichen, sexuellen Vereinigung dieser beiden Individuen nicht. Der Schwerpunkt seiner Beschreibung liegt im Gegenteil auf der Betonung, dass sich hier zwei Verstandeswesen lieben und unter anderem auch körperlich vereinigen. Der Autor zählt literarische Topoi, Schablonen der inneren und äußeren Vorgänge auf, die nicht einmal in die Nähe von Erotik geraten.

Dieser eher intellektualistischen Beschreibung von Sexualität stellt der Autor eine andere, elementare und ein wenig anrüchig wirkende Form von Sexualität gegenüber. Sie findet sich in der Figur der Anita Paschke, Stieftochter des Hausverwalters in dem Berliner Mietshaus, in dem Fräulein Broder vorübergehend wohnt. Anita ist die Gegenfigur zum kühlen, intellektuellen Fräulein: Sie ist eine dunkelhäutige, exotische Schönheit, jung, mit üppigen Körperformen; nicht so "Eine mit Brille und ohne Brust, eine, die ihre Zeit mit Lesen totschlägt, anstatt zu arbeiten" (74). Anita ist sich ihrer körperlichen Reize bewusst und setzt sie gezielt ein, um Erp zu verführen. Sie findet ihn attraktiv, weil er ein Auto hat - ein Prestigeobjekt, dessen Besitz Fräulein Broder eher kritisiert. Erp ist für diese verführerische Erotik nicht unempfänglich: Weil er "nicht allein sein konnte" (218), lässt er sich auf ein sexuelles Abenteuer mit Anita ein, das nur durch den Besuch seines Freundes Mantek verhindert wird.

Anita, "die schwarze Rose aus Aufgang A" (74) scheint die Inkarnation all dessen zu sein, was auf dem VIII. Plenum der SED als vom Westen infiltriert, sexistisch und pornographisch, negativ in der Darstellung inkriminiert wurde: Sie ist ein uneheliches Kind aus einer Affäre mit einem farbigen US-Sergeanten, aufgewachsen in einer Gegend, die vor 1945 zum Rotlichtmilieu gehörte, wohnend in einem Haus, in dem Prostitution betrieben wurde; sie trägt Jeans und Pullover, hört Beatmusik, zu der sie aufreizend tanzt; sie ist stolz darauf, ungebildet zu sein; wie ihr Stiefvater, der schon unter den Faschisten Juden anzeigte, um an deren Wohnung zu kommen, zeigt sie Erp bei der Volkspolizei wegen Trunkenheit am Steuer und Ehebruchs an, um sich für seine Lügen und Nichtbeachtung zu rächen. Anita symbolisiert eine elementare, triebhafte, unreflektierte Sexualität, die von der herrschenden sozialistischen Moral als negativ stigmatisiert wird. Dagegen hebt sich die kultivierte Liebesnacht der intellektuellen Bibliothekare, die "das menschlich Wertvollste"[13] an Erp hervortreten lässt, positiv ab. Die DDR-Literaturkritik erklärt denn auch Günter de Bruyns 13. Kapitel zur "schönsten Liebesszene" [14] ihrer Literatur. Die vermeintliche Schönheit dieser Szene kann aber nur zustande kommen vor dem Hintergrund der Trennung ganzheitlicher Sexualität in eine "saubere" sozialistische und eine anrüchig-triebhafte Erotik.

Günter de Bruyn kritisiert in seinem Roman nicht nur die sozialistische Einstellung zur Ehe und die Fixierung der Geschlechterrollen innerhalb dieser Institution. Seine Kritik richtet sich besonders gegen die auf dem 11. Plenum der SED festgeschriebene Entzweiung von Sexualität in eine politisch gewollte "saubere" Sexualität und einen davon getrennten dunklen Trieb.

Fußnoten

  1. Günter de Bruyn: Buridans Esel, Halle o.J. Alle Zitate mit Angaben der Seitenzahlen in Klammern im nachfolgenden Textabschnitt beziehen sich auf diese Ausgabe des Romans
  2. Sigrid Töpelmann: Interview mit Günter de Bruyn, in: Weimarer Beiträge 14/1968, Heft 6, S. 1171.
  3. Vgl. Günter Agde (Hrsg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 2000, S. 238 - 251.
  4. Sigrid Töpelmann: Interview mit Günter de Bruyn, in: Weimarer Beiträge 14/1968, Heft 6, S. 1172.
  5. Vgl. Martin Reso: Karl Erp und die Heuhaufen. Zu Günter de Bruyns Roman Buridans Esel, in: Sinn und Form 21/1969, Heft 3, S. 759.
  6. Vgl. Martin Reso: Karl Erp und die Heuhaufen, a.a.O., S. 760.
  7. Dass auch westliche Literaturkritiker nicht frei von patriarchalischen Denkmustern sind, zeigt das Beispiel Fritz J. Raddatz. In seiner Rezension des Romans unterstellt er Karl Erp, "seine Frau mit der Sekretärin" zu betrügen, was entweder darauf hinweist, dass Raddatz sich ein Verhältnis mit einer gleichberechtigten Kollegin offenbar nicht vorstellen kann oder - noch schlimmer - dass er den Roman nicht genau gelesen hat. Vgl. Fritz J. Raddatz: Traditionen und Tendenzen. Materialien zur Literatur der DDR, Frankfurt am Main 1972, S. 346.
  8. Vgl. Peter Gugisch: Eine gewöhnliche Geschichte. Günter de Bruyn: "Buridans Esel", in: Neue Deutsche Literatur 17/1969, Heft 12, S. 104.
  9. Vgl. Lutz Winckler: Bibliotheken für neue Leser? Zur Literaturpolitik der Nachkriegszeit in der Sowjetisch Besetzten Zone und der frühen DDR, in: Jahrbuch zur Literatur in der DDR, Band 5, Bonn 1986, S.92.
  10. Wolfgang Emmerich: Nachwort, in: Sarah Kirsch/Irmtraud Morgner/Christa Wolf: Geschlechtertausch. Drei Geschichten über die Umwandlung der Verhältnisse, Darmstadt und Neuwied 1980, S. 109.
  11. Vgl. Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit, Leipzig 1985.
  12. Christa Wolf: Krankheit und Liebesentzug. Fragen an die psychosomatische Medizin, in: Neue Deutsche Literatur 34/1986, Heft 10, S. 93.
  13. Eva und Hans Kaufmann: Glück ohne Ruh. Zur Darstellung der Geschlechterbeziehungen, in: Dies. (Hrsg.): Erwartung und Angebot. Studien zum gegenwärtigen Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in der DDR, Berlin 1976, S. 153.
  14. Eva und Hans Kaufmann: Glück ohne Ruh, a.a.O. S. 151.