Texte:Produktivkraft sexualitaet3: Unterschied zwischen den Versionen

Aus club dialektik
Wechseln zu: Navigation, Suche
Zeile 1: Zeile 1:
 
{{Kapitel|Titel=Produktivkraft Sexualität|Autor=Uschi Siemens}}
 
{{Kapitel|Titel=Produktivkraft Sexualität|Autor=Uschi Siemens}}
[[Media:Produktivkraft_sexualitaet1.pdf|Druck Version]]
+
[[Media:Produktivkraft_sexualitaet3.pdf|Druck Version]]
   
 
==III. Christof Hein: "Der fremde Freund"==
 
==III. Christof Hein: "Der fremde Freund"==

Version vom 8. April 2008, 11:22 Uhr

Produktivkraft Sexualität
von Uschi Siemens

Druck Version

III. Christof Hein: "Der fremde Freund"

Christoph Hein, 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren, hatte in der DDR hauptsächlich dramatische Texte veröffentlicht, bis 1982 beim Aufbau-Verlag in Weimar seine Novelle "Der fremde Freund"[1] erschien. Ein Jahr später wird sie unter dem Titel "Drachenblut" im Westen veröffentlicht.

Christoph Hein stellt den Aspekt der Zivilisationskritik als Thema der Novelle in den Vordergrund,[2] sie lässt sich aber auch lesen als Beispiel für die Unmöglichkeit geglückter Beziehungen zwischen Männern und Frauen unter tradierten Herrschaftsverhältnissen und damit auch als umfassende Kritik an der Ehe- und Familienpolitik der DDR-Gesellschaft. Einen ersten Hinweis darauf liefert der dem Text vorangestellte Traum-Prolog. Die Träumerin muss auf zwei schmalen Balken ohne Geländer einen grundlosen Abgrund überqueren. Ihr Begleiter, mit dem sie gemeinsam diesen Abgrund überwinden will (muss?), ist zwar ein Freund, aber ein Mann mit "traumverschwommenem" Gesicht. Seine hilfreich ausgestreckten Hände empfindet sie nicht als Unterstützung bei der Überquerung des Abgrunds, sondern eher als Bedrohung. Er hat sich "unlösbar" in ihre Hand "gekrallt" (5), sich fest an sie "geklammert", seine Fingernägel in ihren Arm gebohrt, während die Träumerin sich wünscht, er möge sie loslassen, damit "jeder für sich" dieses gefährliche Wagnis unternehmen kann. Schon dieser Traum verweist auf das Beziehungsproblem zwischen den Geschlechtern, auf die Schwierigkeiten und Ängste von Männern und Frauen, die das Leben mit seinen Abgründen und Gefahren gemeinsam zu bewältigen versuchen und sich dabei gegenseitig mehr gefährden als stützen.

Einen weiteren Hinweis gibt die Wahl der zentralen Figur. Heins Ich-Erzählerin Claudia ist eine vierzigjährige, geschiedene, kinderlose Ärztin. Sie reflektiert anläßlich der Beerdigung ihres "fremden Freundes" Henry Sommer die Beziehung, die sie im vergangenen Jahr mit Henry hatte. Das Nachdenken über das Jahr mit Henry erweitert sich zu einer Lebensbilanz. Der Autor verschwindet vollkommen hinter seiner Hauptfigur, die konsequent aus ihrer Figurenperspektive die Bestimmtheit ihres Lebens durch männliche Normen und Werte schildert.

Claudia lebt in einem Ein-Zimmer-Appartement in einem Hochhaus in Berlin, das hauptsächlich von Alleinstehenden, Unverheirateten und alten Leuten bewohnt wird. Die Anonymität unter den Bewohnern dieses Hauses entspricht der Distanz, die Claudia zu den Menschen ihrer Umgebung hat. Die Nachbarn sind ihr"gleichgültig", ihre Eltern sind "Leute, mit denen mich nichts verbindet" (39), an den Schicksalen und Problemen ihrer Freunde und Bekannten ist sie "nicht interessiert" (114), ihre Patienten haben - bis auf eine Ausnahme - keine Namen, sondern sind Fälle von "Trunkenheit, Blinddarmreizungen, Magenbeschwerden, Bluthochdruck" (34). "Es interessiert mich nicht", "es berührt mich nicht", "es ist mir gleichgültig" sind die häufigsten Aussagen ihrer Lebensbilanz. Dem Kontakt zu Menschen zieht sie "das diskretere Verhältnis zu meinen Möbeln" vor, weil sie "unaufdringlicher" (25) sind und auf ihren Fotographien finden sich nur Landschaften, nie Menschen. Claudia möchte sich durch Desinteresse und Distanz vor Verletzungen durch andere Menschen schützen, sie hat Angst "enttäuscht und verletzt, belogen, hintergangen, überrumpelt zu werden"[3]. Ein Grund für diese lebensbestimmende und -reduzierende Angst liegt in der Kindheit, die im neunten und längsten Kapitel der Novelle geschildert wird.

1. Der Verlust der Unschuld

Claudia erlebt ihre Kindheit in den fünfziger Jahren in einer Kleinstadt in der DDR. Katharina, ihre "beste Freundin" (146) ist ein Mädchen, "das ich so rückhaltlos geliebt hatte, wie ich nie wieder einen Menschen sollte lieben können" (153). Claudia stammt aus einem atheistischen Elternhaus, ihr Vater ist Mitglied in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, sie selbst will Mitglied im sozialistischen Jugendverband werden. Katharina dagegen stammt aus einem christlichen Elternhaus, sie ist gläubig und besucht Bibelstunden. Die Probleme der Verfolgung von Kirche und Religion, Ausdruck der politisch-weltanschaulichen Kämpfe dieser Zeit, waren Christoph Hein, Sohn eines evangelischen Pfarrers, aus eigenem Erleben bekannt.

Der ideologische Druck und pubertäre Eifersucht auf den ersten Freund Katharinas zerstören die kindliche Freundschaft. Eltern und "wohlgesonnene Lehrer" (149) fordern Claudia auf, die Freundschaft mit Katharina zu beenden, weil sie ihren "weiteren Lebensweg" (148) gefährde. Die Delegierung an die Oberschule hängt - außer von guten schulischen Leistungen - auch von der Mitgliedschaft im sozialistischen Jugendverband ab. Katharinas Weigerung, einen Aufnahmeantrag zu stellen, stempelt sie in den Augen der Erwachsenen zur Friedensgegnerin und Kriegshetzerin. Claudia, bis dahin eher fasziniert von der Religion ihrer Freundin, macht sich schließlich - unter persönlichem und gesellschaftlichem Druck - über die "christlich-abergläubischen Ansichten" (152) ihrer Mitschülerin lustig. Verrat an der Freundin und der damit verbundene Selbstverrat sind der Preis für die "Aufnahme" in die sozialistische Gesellschaft. Die gesellschaftliche "Belohnung" für Anpassung und Wohlverhalten ist ein Medizinstudium, während die Eltern Claudia "eine rotlederne Aktentasche" (153) schenken.

Der nächste Schritt politischer Distanzierung wird von Claudia verlangt, als ihr Onkel Gerhard, mit dem sie ein "herzliches Verhältnis" (154) verbindet, als politischer Denunziant verurteilt wird. Claudias persönliche Verstörung äußert sich in emphatischer Verurteilung des Onkels und starkem persönlichen Schuldbewusstsein, ihre Verurteilung des Onkels wird aber nicht angenommen. Der wichtigste Lerneffekt für Claudia: "Ich begann zu schweigen, um nicht andere zu belästigen" (156); ein Schweigen, das zu einer "Unfähigkeit zu lieben"[4] führt.

Mit dem Verlust der politischen Unschuld eng verbunden ist für Claudia der Verlust ihrer weiblichen und sexuellen Integrität. Ebenfalls noch in der Schule erfährt sie im Sportunterricht die Degradierung zum Sexualobjekt. Während die "schönsten und entwickeltsten Mädchen" (135) vorturnen müssen und der Sportlehrer dabei seine Stellung benutzt, um Mädchenkörper zu betasten, beschimpft er die anderen Mädchen (und Jungen) als "Matschpflaume" beziehungsweise "Saftsack"; Bemerkungen, die die Jugendlichen "starr und leblos" (135) machen. Am Beispiel ihrer Klassenkameradin Lucie Brehm lernt Claudia nicht nur, wie demütigend die Entblößung des weiblichen Körpers sein kann, sondern auch, wie groß der Druck ist, sich mit Lehrer und Mitschülern gegen das weibliche Opfer zu verbünden: "Keine von uns half ihr" (134).

Claudias schwärmerische Schülerinnen-Liebe für den Geschichtslehrer Gerschke entspringt ihrer Sehnsucht, von dem verehrten Lehrer nicht nur als fleißige Schülerin, sondern als werdende Frau wahrgenommen zu werden. Die naive Schwärmerei des jungen Mädchens wird durch die radikale sexuelle Aufklärung ihrer Mutter ebenfalls ins Negative gewendet. Ihre "schönste Hoffnung, (...) schnell erwachsen zu werden" (141) wird zerstört. Claudia lernt, dass Frauen "sich keinesfalls zu früh mit einem Mann einlassen" dürfen, dass "jede Frau nur einen einzigen Mann lieben durfte, für den sie sich bewahren" (141) muss. Die Prüderie und Angst der Müttergeneration vor Sexualität und vorzeitiger Schwangerschaft wird auf die Töchtergeneration übertragen, die Verbindung von Sexualität mit Geschlechtskrankheit, Siechtum und Ekel hergestellt.

Gesellschaftliche und sexuelle Gewalt vermischen sich, werden als männliche Gewalt erlebt. Claudia lernt, dass politisch missliebige Ereignisse wie der 17. Juni 1953 ebenso tabuisiert werden wie Fragen zu Liebe und Sexualität. Da "auch ein Gespräch etwas Bedrohliches" (145) sein kann, breitet sich auch hier das "wattige Schweigen" Brigitte Reimanns aus. Schweigen, nicht unbequem und lästig sein, sich Anpassen, um kein Ärgernis zu sein, diese Erfahrungen gelten nicht nur für Claudia als Individuum, sondern für ihre ganze Generation: "Ich glaube jetzt, meine ganze Generation ging in den Turnhallen ihrer Schulen so nachhaltig auf die Matte, daß es uns noch immer in allen Gliedern steckt" (137).

Die Erfahrung sexualisierter Gewalt als Herrschaftsmittel hört für Claudia nicht mit der Kindheit auf. In Beruf und Privatleben wird sie mit unterschiedlichen Formen der Rolle als Sexualobjekt konfrontiert. Onkel Paul findet es normal, ihr bei einem Besuch ungeniert an die Brust zu fassen, während Herr Doyé, ein zweiundsiebzigjähriger Patient, ihr nicht nur "gern über sein Sexualleben" (12) erzählt, sondern sich auch den sexuellen Scherz erlaubt, ihr einen Lippenstift mitzubringen, der sich als "kleiner dunkelroter Phallus" (13) entpuppt. Ohne Rücksicht auf persönliche Grenzen fragt er Claudia nach ihrem Sexualleben mit Henry aus. Fred, ein befreundeter Zahnarzt, vertreibt sich seine Langeweile im Urlaub gerne mit sexuell aufgeladenen Machtspielchen. Er stellt Claudia vor die Alternative, sich entweder in seiner Anwesenheit anzuziehen, oder zuzugeben, dass sie hysterisch ist und "ein verquetschtes Sexualleben" (81) hat. Die Demütigung liegt nicht nur in der Missachtung von Claudias Schamgefühl, sondern vor allem in den Bemerkungen über ihre Brüste und Hüften, mit denen er seine voyeuristische Machtdemonstration begleitet.

Der Degradierung zum Sexualobjekt durch männliche sexuelle Machtdemonstrationen entspricht die Erfahrung in der Ehe, auf Mutterschaft reduziert zu werden. Claudia erlebt die Sexualität in ihrer Ehe mit Hinner als widersprüchlich. Sie schläft zwar gerne mit ihrem Mann, gleichzeitig ist der Sexualakt ein "monströser Eingriff, der meine ganze Zukunft bestimmen sollte, ein Eingriff in meine Freiheit" (105). Da sich weder der Staat allgemein noch ihr Mann individuell für die Verhütung von Schwangerschaften verantwortlich fühlen, muss Claudia sich allein mit den Konsequenzen der gemeinsam erlebten Sexualität auseinandersetzen. Claudia will keine Kinder, fühlt sich wie eine "austragende Höhle, die Amme seiner Embryos" (105) und unterzieht sich zweimal einer Abtreibung. In der DDR wurde der straffreie Schwangerschaftsabbruch im März 1972 legalisiert und damit unzweifelhaft das Selbstbestimmungsrecht der Frauen gefördert. Sich einer solchen Schwangerschaftsunterbrechung zu unterziehen, wird jedoch zur demütigenden Erfahrung, Objekt äußerer Mächte zu sein: "Ich lag auf einem Bett, einem Stuhl, die Beine angeschnallt, die Scham rasiert (...). Ich fürchte mich, (..) einen Körper als den meinen annehmen zu müssen, der gewaltsam gespreizten Beine gewahr zu werden, festgehalten, angeschnallt, (...). Zwischen meinen Beinen ihre Stimmen, das leise Klirren des Operationsbestecks" (107). Dass ihr Mann sie verlässt, weil sie ihm "keine dicken Kinder in die Welt setzte" (11), ist dann nur noch bestrafende Konsequenz für Claudias Verweigerung, sich auf die von Gesellschaft und Ehemann erwartete "natürliche" Mutterrolle einzulassen.

2. Erzählendes Ich - erzähltes Ich

Claudia hat sich einer sozialen Ordnung angepasst, in der männliche Herrschaftsstrukturen den "Anschein einer natürlicher Ordnung"[5] haben, in der das über die Jahrhunderte anerzogene "Gefühl einer Überlegenheit" (160) der Männer über die Frauen als normal und selbstverständlich gilt. Dass dieser Anpassungsprozeß nicht reibungslos und ohne Widerstand vor sich geht, bringt Christoph Hein zum Ausdruck in der Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich. Claudia, das erzählende Ich, entwirft in kühlen, knappen, sachlichen Sätzen von sich selbst das Bild einer beherrschten, distanzierten, gleichgültigen Frau. Das erzählte Ich hat in Drachenblut (209) gebadet, hat sich unverwundbar gemacht gegen Gewalt und Verletzungen der äußeren Welt. Das erzählte Ich ist "zufrieden", "gesund" (212), ausgeglichen" (211): "Es geht mir gut. (...) Ich wüßte nichts, was mir fehlt" (212). Das erzählende Ich ist sich jedoch bewusst, dass es in dieser "unverletzbaren Hülle" krepieren wird "an Sehnsucht nach Katharina" (209), dass es "aus diesem dicken Fell meiner Ängste und meines Mißtrauens" (209) herauswill. Claudia ist sich des Widerspruchs, in dem sie lebt, bewusst: "Im Hintergrund das Wissen um meine stete Bereitschaft, mich aufzugeben, Sehnsucht nach der Infantilität." (68). Der "schwere, süßliche Wunsch, geborgen zu sein" (68) kollidiert mit dem Wunsch, sich gegen emotionale Verletzungen zu wappnen. Claudia, das erzählende Ich, kann die Sehnsucht nach Nähe und Liebe, die Empörung über Gewalt, die Enttäuschung über Verletzungen nicht vollständig unterdrücken und muss sich immer wieder selbst zur Ordnung rufen. So ist sie stark emotional berührt, als Hella, das "schöne Mädchen" aus dem Ostsee-Urlaub, ihr spontan einen Klarapfel schenkt; Claudia berührt die Hand des jungen Mädchens und versteckt ihre Rührung hinter ihrer Sonnenbrille. Das erzählte Ich dagegen kauft wahllos Weihnachtsgeschenke ohne persönlichen Bezug, weil es kein Interesse an persönlichen Geschenken hat. Claudia würde die Landschaftsfotos, die sie in ihrer Freizeit macht, gerne entweder in ihrem Zimmer aufhängen oder "nach Hause" schicken, das erzählte Ich zensiert diesen Wunsch sofort als zwecklos, weil die Mutter die Fotos nur benutzen würde, "um sich an meinem Leben beteiligen zu können" (111). Das erzählende Ich leidet unter den beiden Abtreibungen, ist "verzweifelt"; das erzählte Ich beruhigt sich damit, dass es "keine Schuldgefühle" hat und "nicht daran beteiligt" (104) war. Claudia fühlt sich "gedemütigt" (187), als sie von dem Verhältnis zwischen ihrer Schwester und ihrem Ex-Ehemann erfährt, sie verhält sich daraufhin "widerlich" (186) und kränkend der Schwester gegenüber. Das erzählte Ich hingegen betont immer wieder, dass dieses Verhältnis sie nicht stört, nicht berührt.

Immer dann, wenn Claudia dieser Widerspruch in ihrer Persönlichkeit bewusst wird, versucht sie sich mit Schlaf- und Beruhigungstabletten oder Alkohol zu betäuben. Funktioniert diese Selbstberuhigung nicht, muss die Sprache als Ordnungs- und Beruhigungsfaktor herhalten: "Es läuft alles in seiner gewohnten Ordnung, alles normal. Kein Anlaß für einen Schrei. Nur nicht hysterisch werden. Ich will bleiben, was ich bin, eine nette, normale Frau" (162). Sprache wird zum Mittel, sie erhält "Schutzfunktion" gegen Schmerz und Bewusstmachung, sie soll die eigenen Emotionen "wegrationalisieren" und "wegreflektieren".[6] Claudia nutzt die Sprache, um ein Bild von sich selbst zu erzeugen, das in eine von männlichen Normen und Werten strukturierte Gesellschaft passt. Sie reproduziert damit männliches Herrschaftsdenken, in dem "das Geschlecht als das primär Unterscheidende und Dominierende" (103) gilt.

Der Widerspruch zwischen erzählendem und erzähltem Ich ist Ausdruck der Tatsache, dass Claudia und ihre Generation "noch immer auf der Matte" (137) liegen. Die unterschiedlichen Gewalterfahrungen der "Matschpflaumen" und "Saftsäcke" aus der Kindheit wirken bis in die achtziger Jahre bestimmend auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen. Eine besondere Zuspitzung ihrer inneren Widersprüche erlebt Claudia in der Beziehung zu Henry, ihrem "fremden Freund".

3. Henry Sommer - ein zärtlicher Anarchist?

Henry lebt in einem Einzimmer-Appartement im gleichen Hochhaus wie Claudia, in dem er niemanden kennt. Henry ist verheiratet und hat zwei Kinder, seine Familie lebt in Dresden, wo er sie alle zwei oder drei Wochen besucht. Die Ehe existiert nur noch auf dem Papier, da die Eheleute sich nach zwei Jahren berufsbedingter Trennung auseinandergelebt haben. Seine Frau hat inzwischen einen anderen Freund, der Kontakt wird nur der Kinder wegen aufrechterhalten.

Henry ist von Beruf Architekt und baut Atomkraftwerke. Er spricht nicht viel über seine Arbeit, und wenn, dann zynisch: "Er baue immerfort kleine, genormte, unnütze Atomkraftwerke, bei denen der Fluß einmal rechts und einmal links vorbeifließe. Letzteres sei das Aufregendste in seinem Beruf, der Rest alltägliche Routine" (36). Henry langweilt sich in seinem Leben, trotz häufiger Reisen ins sozialistische Ausland. Er leidet unter der Normierung sowohl der Architektur, der Wohnungen und Wohnungseinrichtungen als auch unter den genormten, uniformierten Lebensperspektiven. Seine Reaktion auf die gesellschaftliche Uniformierung ist Provokation: sein Markenzeichen, den Filzhut, trägt er auf "herausfordernde Art" (27); sein Hobby ist schnelles, gefährliches und risikobereites Autofahren, denn "Wenn ich fahre, spüre ich, daß ich lebe" (37). Diese Eigenschaft Henrys, Grenzen zu überschreiten, andere Menschen zu provozieren und zu überraschen, ist Claudia, die mühsam um die Aufrechterhaltung ihres Gleichgewichts bemüht ist, "fremd" und "unbegreiflich" (38). Diese "Distanz" wiederum macht Henry aber überhaupt erst "als Partner möglich"[7].

Henry ergreift auch in Bezug auf Claudia die Initiative. Nach einer zufälligen Begegnung am Fahrstuhl überrascht er Claudia am gleichen Abend mit seinem Besuch. Nachdem er sich von Claudia mit Essen und Trinken hat versorgen lassen, befriedigt er auch seine sexuellen Bedürfnisse mit ihr. Claudia ist "zu verwundert", "um etwas zu sagen" (31) und lässt es eher passiv geschehen. Es fällt auf, dass Henrys Interesse an Claudia hauptsächlich sexueller Natur ist. Ob am ersten Abend ihrer Bekanntschaft, ob nach der Rückkehr von Dienstreisen, bei überraschenden Besuchen im Urlaub oder bei Claudias Eltern: Henrys erster Wunsch ist es, mit Claudia zu schlafen. Damit hat Henry auch den Rahmen festgelegt, innerhalb dessen sich die Beziehung bewegen darf. Es gibt eine "Vereinbarung" (58), eine stillschweigende Übereinkunft, "daß keiner für den anderen verantwortlich sei" (68). Henry warnt Claudia davor, sich in ihn zu verlieben, dafür sei er "ungeeignet" (59). Soziale Verantwortung und Nähe sind in der Beziehung nicht erwünscht, die "hübsche Beziehung" soll "nicht mit unlösbaren Schwierigkeiten" (200) behelligt werden.

Claudia, die von der Angst beherrscht ist, sich "nochmals einem Menschen völlig zu offenbaren", sich "einem anderen auszuliefern" (38), akzeptiert diese Abmachung. Aber selbst in einer derart auf sexuelle Triebbefriedigung reduzierten Beziehung wirkt die Lebenskraft der Sexualität und lässt den Wunsch nach Lebendigkeit, das Bedürfnis nach Nähe, Gemeinsamkeit und Vertrauen aus der rationalen Kontrolle geraten. Claudia, die sich in Henrys Gegenwart wohlfühlt, unternimmt zwei Versuche, aus der erwarteten Rolle auszubrechen, mehr Nähe herzustellen als für sexuellen Verkehr notwendig ist und sich Henry so zu zeigen, wie sie wirklich ist. Auf beide Annäherungsversuche reagiert Henry mit distanzierender Gewalt.

Der erste Versuch einer Annäherung findet im fünften Kapitel der Novelle statt. Claudia unternimmt mit Henry einen Ausflug aufs Land. Sie versucht, ihm ihr Hobby, das Fotografieren und die von ihr geliebte Natur nahe zu bringen. Auf dem Weg provoziert Henry durch seine riskante Fahrweise beinahe einen Unfall, der beteiligte Bauer schlägt ihn nieder. Claudia übernimmt souverän das Steuer, vermittelt zwischen den männlichen Kampfhähnen. Henry, der moderne Stadtmensch, fühlt sich ganz offensichtlich nicht wohl in der Natur. In seinem männlichen Stolz verletzt, verunsichert durch die fremde Umgebung, konfrontiert er Claudia mit der bisher verschwiegenen Tatsache, dass er verheiratet ist. Claudia fühlt sich "maßlos gekränkt" (67) und "hintergangen" (68) von der Erkenntnis, "nichts anderes als das Verhältnis eines verheirateten Mannes" (68) zu sein. Als sie darauf mit hysterischem Gelächter reagiert, reißt Henry sie zu Boden und vergewaltigt sie. Neben der Tatsache, dass in diesem Kapitel Sequenzen aus dem Traum-Prolog wieder auftauchen, ist es bezeichnend, dass Claudia am Ende des Kapitel, nachdem Beruhigungstablette und Alkohol den Schmerz nicht betäuben konnten, ins Kindliche regrediert: "Ich sagte zu mir, du hast ein bißchen geweint, nun laß es gut sein. Nun wollen wir schlafen. Du willst doch ein großes Mädchen werden. Nein, Mama, ich will es nicht. Ich will kein großes Mädchen werden. Aber du hast noch soviel vor dir. Ich will nicht, Mama, ich will nicht" (71).

Den zweiten Versuch, sich zu zeigen, unternimmt Claudia im neunten Kapitel, als sie Henry bittet, sie auf einer Fahrt in ihre Vergangenheit, in die Stadt ihrer Kindheit zu begleiten. Henry hält die Beschäftigung mit der Vergangenheit für "zwecklos", weil sie "unfähig macht zu leben" (157) und versucht, Claudia davon zu überzeugen, die Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit aufzugeben. Auf der Rückfahrt von G. provoziert er wieder beinahe einen Unfall und diesmal greift Claudia ihm ins Steuer. Henry schlägt Claudia "mit dem Handrücken ins Gesicht" (158). Claudia ist sich bewusst, dass dieser Schlag keine mechanische Abwehrreaktion gewesen ist, sondern eine bewusst abfällige Geste, "wie man ein Tier straft oder antreibt" (159). Sie versucht wiederum, Henrys Verhalten und ihre Emotionen zu rationalisieren. Sie sieht in einer "jahrhundertealten Männergesellschaft" die Ursache für den "Verlust an Menschlichem durch Ausüben von Herrschaft" (105), aus dem sich ein "über die Jahrhunderte anerzogenes, fast schon angeborenes Gefühl einer Überlegenheit" (160) entwickelt, das es Männern ermöglicht, eine Frau zu schlagen und sie gleich darauf umarmen zu können. Henry, der sich einer Auseinandersetzung mit seiner eigenen Geschichte und Vergangenheit verweigert, transportiert nicht nur diese jahrhundertealte "Gewalt als notwendige Erziehungsmaßnahme" (160)[8], sondern verweigert sich auch dem Nachdenken über neue Formen der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen. Sein Tod, Ergebnis einer Schlägerei mit Jugendlichen, die in der Novelle mehrfach als gelangweilt und deswegen gewalttätig charakterisiert werden, erscheint daher als folgerichtige Konsequenz seines Lebens.

Für Claudia wiederholen sich die Erfahrungen ihrer Kindheit: Der Versuch, sich selbst zu zeigen und mit ihren Emotionen und Sehnsüchten wahrgenommen zu werden, wird mit gewaltsamen Distanzierungsversuchen bestraft. Sie reagiert darauf mit dem endgültigen Rückzug in ihre Drachenhaut. Einem zaghaften Versuch Henrys, ein Gespräch über die Zukunft und Art ihrer Beziehung zu führen, begegnet sie mit Unverständnis und Gleichgültigkeit.

4. Die Institution Ehe

Die "lebenszeitliche Einehe" gilt in der DDR als "normale und normgerechte Form des Zusammenlebens"[9]. Mit dem Familiengesetzbuch von 1965 werden Ehe und Familie als einzige Lebensform in der sozialistischen Gesellschaft juristisch besonders geschützt und gefördert. Die monogame Ehe soll auf "anhaltenden Gefühlsbeziehungen gegenseitiger Achtung und gegenseitigem Vertrauen, auf wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Beziehungen der Gleichberechtigung sowie auf der gemeinsamen Sorge für die Kinder"[10] beruhen. Man geht davon aus, dass die meisten Ehen nicht mehr aus Sicherheits- und ökonomischen Gründen, sondern aus gegenseitiger Zuneigung geschlossen werden. Die hauptsächliche gesellschaftliche Funktion von Ehe und Familie ist die Zeugung und Erziehung der Kinder; daneben soll sie aber auch eine "Einheit zum wirkungsvollen Training richtiger zwischenmenschlicher Verhaltensweisen" und eine "dauerhafte Form zur menschenwürdigen Realisierung der Sexual- und Geltungstriebe"[11] sein.

Dieser gesellschaftlichen Wunschvorstellung stellt Christoph Hein in seiner Novelle eine - zwar fiktive - gesellschaftliche Realität entgegen, die die Überlebtheit dieser Institution deutlich werden lässt. In ihrem Lebensrückblick lässt Claudia ein Kaleidoskop verschiedener Ehen Revue passieren, das die Idee der Ehe als "höchstentwickelte Form sozialen Verhaltens, das zwischen zwei Menschen möglich ist" ad absurdum führt.

Die Ehe ihrer Eltern verläuft nach klassischem Muster: Der Vater, zur Zeit der Erzählung Rentner, war Parteigenosse und Handwerksmeister in seinem Betrieb, die Mutter Hausfrau. Den Vater interessieren nur "Politik und Betriebsprobleme" (190), Kommunikation zwischen den Eheleuten findet - wenn überhaupt - in Form autoritärer Wutausbrüche des Vaters statt. Ansonsten ersetzt der Fernseher selbst am Weihnachtsabend die Gespräche zwischen den Familienmitgliedern. Claudias Mutter, die es "sehr schwer" (41) mit ihrem Mann hat, beneidet die Tochter insgeheim ein wenig um die wiedergewonnene Freiheit nach der Scheidung und muss zugeben, das ihre Tochter "es richtiger macht" (46) als sie selbst. Aber langjährige Gewohnheit, Angst vor der Einsamkeit im Alter und das Klammern an den Traum von der Ehe als "die ihr einzig denkbare Art" (190), zufrieden zu leben, machen ihr eine Trennung von ihrem Mann unmöglich.

Die traditionelle Macht- und Rollenverteilung erlebt Claudia auch in der Ehe ihres Chefarztes. Seine Frau erscheint als typisches Hausmütterchen, eine "abgearbeitete[n], verschüchterte[n] Person in einem Hauskittel" (97), die wenig spricht, ihren Mann wegen seiner Gelehrtheit bewundert und sich, ohne ärgerlich zu werden, den Mund verbieten lässt. Klaglos und unterwürfig erfüllt sie die Rolle eines Dienstmädchens, kocht Kaffee für den Besuch, räumt Geschirr ab und lässt sich aus dem Raum schicken, wenn es um berufliche Themen geht. Da Kinder und Jugendfreunde des alten Ehepaares im Westen leben, hat sie "eigentlich nur ihren Mann" (98), von dem sie finanziell und emotional abhängig ist. Während sie als "Mutti" jenseits aller sexuellen Bedürfnisse ist und zu sein hat, lebt ihr Mann seine sexuellen Wünsche im Rahmen seines Berufes in Affären und Flirts mit jungen Kolleginnen und Krankenschwestern aus. Dass die Kollegen überrascht sind, dass "der Alte auch seine Abenteuer hat" (50), während sie es bei der Krankenschwester Karla alle vermuteten, wirft noch ein weiteres Licht auf die gesellschaftliche Bewertung von Männern und Frauen.

Während Sexualität in den Ehen der Elterngeneration keine Rolle mehr spielt, ist die Ehe von Onkel Paul und Tante Gerda von primitiver Derbheit gekennzeichnet. Nicht nur, dass der Onkel es für normal und selbstverständlich hält, seiner Nichte in Anwesenheit seiner Frau und Claudias Mutter an die Brust zu fassen und sich über die Entrüstung und den Widerwillen der Frauen lustig zu machen; mit der gleichen Rücksichtslosigkeit setzt er sich über andere Ängste seiner Frau hinweg, indem er sie mit einer Ferienreise ans Schwarze Meer gleichzeitig überraschen und zum Fliegen zwingen will.

Ihre eigene Ehe mit Hinner sieht Claudia im Rückblick als den vergeblichen Versuch junger Leute, alles anders zu machen als die Elterngeneration. Die "bedrückenden Umstände", in denen die Elterngeneration aus der Sicht der Kinder lebt, wollen sie hoffnungsvoll "verbessern" (101), aber die "einzig denkbare Alternative" (101) zum Leben der Eltern ist - zumindest offiziell - wiederum die Ehe. Mit dem Eintritt in das Eheleben verstricken sich die jungen Leute gerade in die Traditionen der Arbeitsteilung, der Rollenbilder, des Herrschaftsverhältnisses dieser Institution. Claudia fühlt sich in ihrer Ehe ähnlich benutzt wie Franziska Linkerhand: In der Sexualität ist sie das "Objekt" seiner Begierde; ihre Verweigerung der Mutterrolle und die Souveränität, mit der sie allein über die zweite Schwangerschaftsunterbrechung entscheidet, löst bei ihrem Mann Erschrecken aus und führt - neben seinen "abgeschmackten Abenteuern mit Schwesternschülerinnen" (105) letztendlich zur Trennung.

Das Erschrecken der Männer über die durch Berufstätigkeit und gesellschaftliche Anerkennung gewonnene Souveränität der Frauen äußert sich in verschiedenen Formen von Zynismus und Gewalt. Fred, ein befreundeter Zahnarzt, den Claudia jedes Jahr im Urlaub in seinem Sommerhaus besucht, ist mit Maria, seiner ehemaligen Sprechstundenhilfe in dritter Ehe verheiratet. Er quält und demütigt seine Frau besonders gerne in Claudias Anwesenheit, um damit beiden Frauen seine Macht zu demonstrieren, die offensichtlich in seinem Zynismus und seiner Gefühlskälte begründet liegt. Er betrügt Maria - wie schon die zwei Frauen vor ihr - mit seiner jetzigen Sprechstundenhilfe und vermittelt ihr ein Gefühl von Abhängigkeit und Unterlegenheit, das sie in Verzweiflung und Alkoholismus treibt. Eine Trennung kommt aber auch für Maria aus Gründen, die "tiefer liegen", (89) nicht in Frage.

Dass die Ehe auch Prostitutionscharakter annehmen kann, zeigt die Ehe von Claudias Freundin Anne, ebenfalls eine Ärztin für Anästhesie. Anne ist mit einem vierzehn Jahre älteren Arzt verheiratet, mit dem sie vier Kinder hat. Obwohl sie regelmäßig und gut miteinander schlafen, wird sie von ihrem Mann alle "zwei Wochen vergewaltigt" (14), weil "er das brauche" (14). Zum Ausgleich dafür erhält Anne teure Geschenke von ihrem Mann. Das Bewusstsein ihrer Demütigungen ertränkt sie in Alkohol. Auch sie will sich nicht scheiden lassen, "wegen der Kinder und aus Angst, allein zu bleiben" (14). Ihre Hoffnung ist, dass mit wachsendem Alter und wachsender Senilität die sexuelle Potenz ihres Mannes nachlässt.

Frauen reagieren auf diese Formen von Gewalt mit Kastrationsversuchen. Die Ehe von Claudias Schwester Irene ist ein Beispiel dafür. Irene, die als Lehrerin in Rostock arbeitet, ist unglücklich verheiratet mit Hannes, einem Ingenieur, mit dem sie eine fünfjährige Tochter hat. Irene behandelt ihren Mann in der Öffentlichkeit "immer herablassend und gereizt", wie einen "weichlichen, begriffsstutzigen Versager" (184) und bringt die Familie in die peinliche Situation, die hilflose Betroffenheit und Verletztheit des Mannes ebenso wie die öffentlichen Anfeindungen zu überhören und zu übersehen. Irene beginnt mit Claudias Ex-Mann Hinner eine Affäre. Hinner, der inzwischen in die Partei eingetreten, zum Oberarzt avanciert ist und eine glänzende Karriere vor sich hat, entspricht wohl eher Irenes ehrgeizigen Vorstellungen eines Lebenspartners und dient als Mittel zur Demütigung des eigenen Ehemannes.

Der eklatante Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit einerseits und dem Wunsch nach attraktiver Sexualität andererseits bestimmt die Ehe von Charlotte und Michael Kramer. Das idyllisch-heile Familienleben des befreundeten Ehepaars entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Fassade. Charlotte, eine Studienfreundin von Claudia, ist ebenfalls Ärztin und arbeitet an der Universität. Ihr Mann Michael ist Laborleiter in einem pharmazeutischen Betrieb und zehn Jahre älter als seine Frau. Sein Alter, seine Fürsorge für die drei Söhne und seine Nestbau-Ambitionen vermitteln Charlotte Sicherheit, aber - und vielleicht gerade deswegen - ihr Mann ist für sie sexuell nicht mehr attraktiv. Charlotte entzieht sich ihrem Mann sexuell, beginnt statt dessen ein sexuelles Verhältnis mit einem verheirateten Fernstudenten, der alle sechs Wochen nach Berlin kommt. Sie will keine Scheidung und den Verzicht auf das harmonische Familienleben, aber sie will auch auf ihre Sexualität nicht verzichten.

Die Suche nach erfüllter Sexualität, die sie in ihrer Ehe offenbar nicht findet, treibt auch Claudias "männertolle" Sprechstundenhilfe und Krankenschwester Karla um. Wenn außereheliche sexuelle Abenteuer wie beim Betriebsfest mit dem Chefarzt des Krankenhauses ohne Folgen bleiben sollen, sind Verhütungsmittel notwendig. Karla thematisiert dieses traditionsgemäß in der Verantwortung der Frauen liegende Problem. Zwar gab es 1980 in der DDR kostenlos die Anti-Baby-Pille, aber die erste Generation der "Pille" führte - nicht nur in der DDR - zu Gewichtszunahmen und schmälerte damit offenbar die sexuelle Attraktivität. Karla möchte, dass Claudia ihr ein anderes Kontrazeptivum, eine Kupferspirale, besorgt, damit sie sowohl ihre gute Figur, ihre sexuelle Attraktivität behalten als auch ihre sexuellen Abenteuer angstfrei genießen kann.

Männer und Frauen in den geschilderten Ehen haben die soziale Ordnung, die eine Überlegenheit der Männer über die Frauen tradiert, wie eine zweite Natur angenommen und sich darin eingerichtet. Die Veränderungen in diesem Herrschaftsverhältnis spiegelt die Abfolge von drei Generationen wider: In der Elterngeneration sind die Männer allein berufstätig und damit das bestimmende Wertezentrum der Familie; in Claudias Generation gelangen die berufstätigen Frauen zu einer Unabhängigkeit, die "ihnen selbst als Ausbruch unerklärbarer triebhafter Sexualität"[12] erscheint. Diese Generation hätte die Möglichkeit, auf der Grundlage einer erreichten Gleichberechtigung neue Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens zu entwickeln. Das Unvermögen, diese Herausforderung anzunehmen und diese Möglichkeiten zu gestalten, vererbt sich auf die dritte Generation der Jugendlichen, bei denen sich die innere Leere in offener Aggression entlädt. In der Institution der Ehe, der einzigen gesellschaftlich anerkannten und geförderten Lebensform, suchen fast alle Partner Schutz, Geborgenheit und Nähe, befriedigende Sexualität findet sich aber nur außerhalb dieser Einrichtung.

5. Der Preis der Zivilisation

Christoph Hein thematisiert in seiner Novelle "Der fremde Freund" Probleme, die sich mit den "Unkosten der Zivilisation"[13] befassen. Das technologisch ausgerichtete Zivilisationsmodell hat Konsequenzen: Isolation, Kommunikationsunfähigkeit, Entfremdung in der Arbeit und im Privatleben. Der zweckgerichtete, männliche Charakter der industriellen Gesellschaften in Ost und West wird zum Maßstab auch für die Entwicklung der menschlichen Beziehungen Der Widerspruch zwischen der Dominanz männlicher Werte und den Ansprüchen der ökonomisch gleichberechtigten Frauen in der DDR stellt die Geschlechter in der Gestaltung ihrer Beziehungen vor ein neues Problem. Der historische Moment, in dem männliche Maßstäbe und Lebensmuster in Frage gestellt werden könnten, um neue Formen der Beziehungen zu entwickeln, scheint verpasst durch die Weigerung der politischen Führung, sich diesem Problem auf der gesellschaftlichen Ebene zuzuwenden. Ausgerechnet am Beispiel einer Ärztin zeigt Christoph Hein den mühsamen Prozess einer Frau, sich an diese männlichen Normen anzupassen. In der konkreten Beziehung zwischen Claudia und Henry führt dieser Prozess zu einer Persönlichkeitsspaltung der Frau, die Hein in der Trennung von erzähltem und erzählendem Ich zum Ausdruck bringt. Das Herunterschrauben der Gefühle "auf ein Nicht-mehr-Fühlen"[14] führt bei Männern und Frauen zu Lähmung und Stagnation in Beruf, Privatleben und Sexualität.


Fußnoten

  1. Christoph Hein: Der fremde Freund, Berlin und Weimar 1983. Die Seitenangaben in Klammern im folgenden Textabschnitt beziehen sich auf diese Ausgabe.
  2. Vgl. Die Intelligenz hat angefangen zu verwalten und aufgehört zu arbeiten. Interview mit Christoph Hein, in: Deutsche Volkszeitung/die tat Nr. 10 vom 9. März 1984, S. 9.
  3. Vgl. Gabriele Lindner: "Der fremde Freund" von Christoph Hein, in: Weimarer Beiträge 29/1983, Heft 9, S. 1645.
  4. Dietrich Löffler: Christoph Heins Prosa - Chronik der Zeitgeschichte, in: Weimarer Beiträge, 33/1987, Heft 9, S. 1485.
  5. Brigitte Sändig: Zwei oder drei fremde Helden, in: Sinn und Form, Heft 4/1993, S.671.
  6. Bärbel Lücke: Christoph Hein. Drachenblut, Oldenbourg Interpretationen mit Unterrichtshilfen, München 1989, S. 79 und 94.
  7. Gabriele Lindner: "Der fremde Freund" von Christoph Hein, in: Weimarer Beiträge 29/1983, Heft 9, S. 1646.
  8. Wenn Wolfgang Emmerich in seiner Rezension der Novelle "Der fremde Freund" im Deutschlandfunk Henry als den zärtlichen Anarchisten bezeichnet, der "praktischer Anwalt lebendiger menschlicher Beziehungen" sei, zeigt dies, wie stark verinnerlicht dieses männliche Überlegenheitsgefühl gesellschaftsübergreifend gewesen ist. Vgl. Wolfgang Emmerich: Neue Literatur aus der DDR. Manuskript der Rezensionssendung im Deutschlandfunk am Montag, 16.05.1983.
  9. Brigitte Hering und Harald Wessel: Liebe, Ehe und Familie im Geiste des sozialistischen Humanismus, in: Richard Halgasch (Hrsg.): Wir bleiben zusammen. Eine Diskussion um Ursachen von Ehekrisen, Leipzig 1971, S. 173.
  10. Brigitte Hering und Harald Wessel, a.a.O., S. 173.
  11. Brigitte Hering und Harald Wessel, a.a.O., S. 180.
  12. Jens-F. Dwars: Hoffnung auf ein Ende. Allegorien kultureller Erfahrung in Christoph Heins Novelle "Der fremde Freund", in: TEXT und KRITIK, Heft 111, München 1991, S. 13.
  13. Antonia Grunenberg: Geschichte als Entfremdung. Christoph Hein als Autor der DDR, in: Klaus Hammer (Hrsg.): Chronist ohne Botschaft. Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Materialien, Auskünfte, Bibliographie, Berlin und Weimar 1992, S. 78.
  14. Christa Wolf: Krankheit und Liebesentzug. Fragen an die psychosomatische Medizin, in: Neue Deutsche Literatur, 14/1986, Heft 10, S. 102.