VI. Kostproben der "kritischen" Anwendung des "etablierten Vernunfttypus"

Aus club dialektik
Version vom 3. November 2013, 08:00 Uhr von Stephan (Diskussion | Beiträge)

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VI Kostproben der "kritischen Anwendung" des "etablierten Vernunfttypus"

Wir nutzen den Aufsatz "Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen - Lesarten der Marxschen Theorie", um einige Früchte der "kritischen" Anwendung des "etablierten Vernunfttypus" zur Kenntnis zu nehmen. Zunächst wird uns mitgeteilt, dass der Marxismus - die parteioffizielle Doktrin im Unterschied zu den westlichen "Marxismen" - eine "restringierte Marx-Lektüre" anbietet. Er stamme gar nicht von Marx, sondern von Friedrich Engels, und müßte daher eigentlich Engelsismus heißen.

(Dieses Argument - ein Klassiker existentialistischer Marxismus-Kritik - verdankt seine Herkunft der evangelischen Theologie, in der es zuerst Anwendung fand. Jesus sei - so meint der Theologe Bultmann - kein Christ gewesen, da er nicht an sich selbst geglaubt habe. Der erste Christ sei Paulus gewesen. Dieses Argument besticht dadurch, dass man nicht Anhänger seiner selbst sein kann. Es hat daher rein formalen Charakter und kann immer angewandt werden. Platon war kein Platonist, Thomas von Aquin war kein Thomist etc. Im Falle des Marxismus aber geht es weiter, weil es sich gegen den parteilichen Charakter der marxistischen Theorie richtet und in Wortspielen die Botschaft vermittelt: Entweder Du bist Partei oder Du treibst Wissenschaft. Beides geht nicht. Dieses Argument schafft es noch nicht einmal zum "etablierten Vernunfttypus", wenn man die evangelische Theologie nicht als vernünftig akzeptiert. Wenn natürlich doch, dann liegt auch hier ein Beispiel dieses Typus vor. Aber das setze ich nicht voraus, deswegen dies nur in Klammern.)

Nach diesem Einstieg werden wir mit den Argumentationsformen des "etablierten Vernunfttypus" vertraut gemacht. Wir folgen dem Abschnitt "I.1. Die ontologische deterministische Tendenz" lückenlos. (Mit dem Titel allerdings beschäftigen wir uns erst später.) Er beginnt mit den Worten: "Der wissenschaftliche Sozialismus wird (von Friedrich Engels, Anmerkung von Stephan Siemens) konzipiert als ontologisches System, 'Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs'. Die Materialistische Dialektik fungiert hier als 'Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengeschichte und des Denkens'; die Natur dient Engels dabei als 'Probe auf die Dialektik'. Eine falsche Analogisierung historisch gesellschaftlicher Prozesse mit Naturphänomenen wird schon allein dadurch vorgenommen, dass in der Engelsschen Erläuterung der Grundzüge der Dialektik gerade die zwischen Subjekt und Objekt fehlt."

Das reicht als erster Eindruck für die folgenden Kostproben. Man muss nur abschreiben, was Engels sagt. Eine Kritik ist gar nicht nötig. Dass das mit dem etablierten Vernunfttypus nicht übereinstimmt, versteht sich von selbst. Legionen von Antimarxisten haben diese Aussagen "widerlegt". Es genügt daher, diese Aussagen anzuführen. Darüber nachzudenken scheint sich nicht zu lohnen.

Engels macht sich - so dann doch der Vorwurf - einer "falschen Analogisierung historischer-gesellschaftlicher Prozesse mit Naturphänomenen" schuldig. Dieses Argument zielt auf den Grunddissens der theoretischen Auffassungen. Nicht die Analogisierung, sondern um das Verhältnis von Natur und Gesellschaft interessiert hier. Primitive Menschen, die sich Marxismus zugehörig fühlen, meinen (versteht sich irrtümlich, wenn man vom etablierten Vernunftbegriff ausgeht), dass die Natur eine Voraussetzung der menschlichen Geschichte und Gesellschaft ist. Diese Meinung schlägt sich darin nieder, dass sie sich nach dem Verhältnis der Natur zur menschlichen Geschichte fragen. Sie behaupten, dass die menschliche Geschichte in der Natur stattfindet, weil die Natur tatsächlich der Gesamtzusammenhang dessen ist, was ist. Daher kommen sie auf die Idee, dass die Geschichte der Menschheit Teil und Gegenteil der Naturgeschichte ist. Um das zu leugnen, muss man entweder die Fragestellung (positivistisch) für Unsinn halten. Das legt der erste Satz dieses Kapitels der Ausführungen von Ingo Elbe nahe. Oder man hört einfach mit dem Denken auf, wenn einen der "etablierte Vernunfttypus" verlässt. Dann vermeidet man, "das Ganze", den Gesamtzusammenhang zu denken.

Inge Elbe kann nicht fassen, dass Engels von der Dialektik der Natur ausgeht: ""Negation der Negation" oder "Umschlag von Quantität in Qualität" werden im Wechsel von Aggregatzuständen des Wassers oder der Entwicklung eines Gerstenkorns ausgemacht." Da versagt sich der "etablierten Vernunfttypus" dem Denken. Denn der etablierte Vernunfttypus lässt die Natur als Gesamtzusammenhang nicht gelten. Er richtet sich nicht nach den wirklichen Verhältnissen, sondern nach der Wissenschaft; und da ist die Natur Gegenstand der NAturwissenschasft, und nur was in der Naturwissenschaften vorkommt - und durch sie als den etablierten Vernunfttypus gerechtfertigt ist -, das hat auch ein Recht gedacht zu werden. Kommt etwa die Negation der Negation in der NAturwissenschaft vor? Nein, wenn man sich nach dem etablierten Vernunfttypus richtet, dann nicht. Also - so die Schlussfolgerung - auch nicht in der Natur. Denn für die NAtur sind innerhalb der wissenschaftlichen Arbeitsteilung die Naturwissenschaften zuständig. (Da macht in der Tat der dialektische MAterialist nicht mit. Wie Leibniz an Newton kriitisiert hat, dass die Gefahr, dass man die Beschränktheit des eigenen Denkens Gott anhängt, wenn man glaubt, er nmüsse die Weltuhr immer wieder aufziehen, so ist der dialektische Materialist davon überzeugt, dass die Naturwissenschaften ein beschränktes Bild der NAtur bieten, das durch die Verabsolutierung endlicher - oder auch einzelwissenschaftlicher - Denkformen charakterisiert ist. Eine Kritik dieser Denkformen als solcher wird in der Regel nicht vorgenommen. Stattdessen streiten sich unterschiedliche Theorien darüber, ob Felder oder einzelne Partikel Grundmoment zur Erklärung der Phänomene seien.)

Doch kommen wir zum Beispiel: Die Veränderung der Temperatur des Wassers (hier als eine quantitative Veränderung aufgefasst) führt innerhalb bestimmter Grenzen zu keiner Veränderung des qualitativen Zustands des Wassers. Allerdings trifft das nur innerhalb bestimmter Grenzen zu. Wird die quantitative Veränderung über diese Grenzen hinausgetrieben, so verändert sich die qualitative Darstellungsweise des Wassers: Es wird entweder fest oder gasförmig, bleibt aber nicht in der qualitativen Darstellungsweise der Flüssigkeiten. (In beiden Fällen ist diese Veränderung des qualitativen Zustands des Wassers mit Energieaufwand verbunden.) Dieses Beispiel soll zeigen: Quantitative Veränderungen ziehen - wenn bestimmte Grenzen überschritten werden, die bestimmt sind durch den Prozess, um den es sich handelt - bestimmte Veränderungen in der qualitativen Darstellungsform des Gegenstandes, der sich in diesem Prozess befindet, nach sich. Das Wasser dient hier als Beispiel für einen Gegenstand, an dem sich dieses Umschlagen vollzieht. Der - bewusst eingeräumte und eingegangene - Mangel dieses Beispiels ist, dass es sich um ein Beispiel handelt, und dass es daher einen vorausgesetzten Gegenstand (hier das Wasser) gibt, an dem sich diese quantitative Veränderung vollzieht. Denn dieses Beispiel soll sich nicht ausschließlich auf Wasser beziehen, sondern auf alle Gegenstände überhaupt, und - da alle natürlichen Gegenstände Prozesse sind - dann auch auf qualitative Veränderungen von Bewegungsprozessen in der Natur im Allgemeinen: Also von der Ortsbewegung zur Wärme zu Magnetismus und Elektrizität etc.

Ähnlich ist es mit dem Gerstenkorn. Man kann dieses Beispiel, das übrigens nicht von Engels, sondern in leicht abgewandelter Gestalt von Hegel stammt, lächerlich machen. Aber wenn man darüber nachdenkt - und es nicht einfach als Tatsache hinnimmt -, dass Pflanzen sich auf eine bestimmte Weise reproduzieren, die - wie bei allen anderen Lebensprozessen auch - mit einer "konstruktiven oder produktiven Zerstörung" einhergeht, wird man sich dazu anders verhalten. "Produktive Zerstörung, so nennt man die Negation der Negation heute. An dem Gedanken geändert hat sich dadurh nichts. Aber der Vorteil ist: Man hat bei der entsprechenden Umformulierung mit dem "Engelsismus" nichts zu tun. Man affirmiert den "etablierten Vernunfttypus".

Aber gehen wir weiter im Text: "Dialektik soll gegen eine statische Betrachtungsweise das "Werden", die "Vergänglichkeit" allen Seins aufzeigen, sie wird rückgebunden an traditionelle bewusstseinsphilosophische Dichotomien, wie die sog. "Grundfrage" der Philosophie, ob im Verhältnis von "Denken und Sein" diesem oder jenem das Primat zukomme, wird zerfällt in zwei Reihen von Gesetzen, in die 'objektive' und die 'subjektive' Dialektik, wobei letztere lediglich als passives Abbild der ersteren gefasst wird."

Eben noch bestritt Ingo Elbe, dass Engels sich mit der Dialektik zwischen Subjekt und Objekt beschäftigt habe. Nun genügt der Hinweis auf die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Dialektik, um durch die bloße Benennung dieses Unterschiedes die Kritik daran abgeschlossen zu haben, wie Engels das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt in der Erkenntnistheorie fasst. (Auf das lediglich passive Abbild kommen wir später zurück.)

Die Dialektik soll angeblich das "Aufzeigen" des "Werdens" und der "Vergänglichkeit allen Seins" gegen eine statische Betrachtungsweise" - leisten. Es handelt sich bei der Dialektik nicht um das Aufzeigen der Vergänglichkeit. Die erkennt man ja hinreichend aus der Erfahrung. In der Dialektik handelt es sich um das Denken der Vergänglichkeit, des Werdens, um das Denken von Prozessen. Nach der marxistischen Theorie ist alles vergänglich und prozesshaft. Etwas nicht Prozesshaftes gibt es nicht. Was immer ich also angemessen denken will, muss ich als Prozess denken, als vergänglich, als Einheit von Sein und Nichtsein (um mich mit Platon und Hegel auszugdrücken). Das Denken von Prozessen setzt eine andere Form der "Bezugnahme" auf Gegenstände und die Wirklichkeit voraus als die der Sprache, weil die Sprache Vergänglichkeit und Werden, allgemeiner Prozesse nicht adäquat abbildet. (Künstliche (menschengemachte) Abbildungen - und dazu gehört die Sprache - sind nicht in sich beweglich, sondern die Bewegung wird durch statische Abbilder in schneller Reihenfolge simuliert, wie Klaus Peters gezeigt hat.) Wer sich also auf Prozesse, auf das Werden, auf die Vergänglichkeit "allen Seins" (das also zugleich Nichtsein ist) beruft, der bestreitet, dass die Gegenstände - gleichgültig welche - sprachlich adäquat erfasst werden - nicht weil sie überhaupt nicht erfasst werden können, sondern weil die Sprache zur Erfassung von Prozessen nur beschränkt geeignet ist. Die Sprache ist selbst nicht in sich prozesshaft, im Unterschied zum Denken der Menschen. (Selbstverständlich hat auch die Sprache ihre Geschichte, und ist in dem Sinne prozesshaft. Aber diese Prozesshaftigkeit ist der Sprache äußerlich. Sie kommt in ihr selbst nicht zum Ausdruck. Nebenbei stellen wir hier wieder eine der Merkwürdigkeiten des dogmatischen Marxismus fest, dass er das menschliche Denken, wiewohl gesellschaftliches Produkt, zugleich als "natürlichen Prozess" auffasst. Wer mit dem "etablierten Vernunfttypus" den linguistic turn mitmacht, begibt sich der Möglichkeit, Veränderungen und Bewegungen angemessen zu denken, kann offenbar mit der Vergänglichkeit allen Seins nur beschränkt etwas anfangen, und hat womöglich speziell mit dem Denken der Vergänglichkeit des Kapitalismus so seine Schwierigkeiten.) Wir bedürfen der Sprache um zu denken, aber die Sprache ist zu beschränkt, um Bewegungen, Veränderungen, Prozesse abbilden zu können. (dasselbe gilt für die von Adorno und den Positivisten gleichermaßen geschätzten "Modelle", die den Bildern entgegengesetzt wreden.) Deswegen bedürfen wir für das Denken von Prozessen zugleich einer Kritik der Sprache, die sich sprachlich in sich selbst widersprechenden Sätzen darstellt. Nehmen wir ein "engelsistisches" Beispiel: "Leben ist sterben." Die Sprache ist - so lautet die Behauptung - ungeeignet, Prozesse abzubilden, weil sie selbst in sich nicht Prozesshaft ist. So wird also ein Marxist den linguistic turn nicht mitmachen, sondern sich auch in der Kritik der Sprache als Form der Bezugnahme auf die Wirklichkeit üben.

Ingo Elbe kommt nun zu positiv kritischen Argumenten. Er beginnt damit auf folgende Weise: "Engels verengt, ja verzerrt so drei elementare praxisphilosophische Motive von Marx, die auch er teilweise in früheren Schriften noch vertreten hatte: Die Erkenntnis, dass nicht nur der Gegenstand sondern auch die Anschauung desselben historisch praktisch vermittelt, der Geschichte der Produktionsweise nicht äußerlich ist." Ingo Elbe zitiert an dieser Stelle "Die deutsche Ideologie" (MEW Band 3, S. 44.), an der Marx und Engels darauf hinweisen, dass die Erkenntnisse der Naturwissenschaften in die Geschichte der Industrie verwoben sind, durch die sie ermöglicht, bedingt und bestimmt sind. Diese Einsicht hat der Engels des Engelsismus vergessen, wie Ingo Elbe feststellt: "Dagegen betont Engels später, 'materialistische Naturanschauung' sei 'weiter nichts als einfache Auffassung der Natur so, wie sie sich gibt, ohne jede Zutat.' Der naive Realismus der später von Lenin u. a. systematisierten Widerspiegelungstheorie, die gerade dem verdinglichten Schein der Unmittelbarkeit eines gesellschaftlich Vermittelten, dem Fetischismus des An-sich-seins eines nur durch historisch bestimmten menschlichen Handlungszusammenhang Existierenden verfällt, wird schon hier begründet." Einverstanden, dass Lenins Widerspiegelungstheorie schon hier begründet wird. Aber ist die Charakterisierung dieser Leninschen Theorie als "naiver Realismus" mehr als ein Nachsprechen oder Abschreiben dessen, was auch schon andere Antimarxisten geschrieben haben? Hat sich Ingo Elbe davon überzeugt, dass die unmittelbare Aufnahme der Natur, so wie sie sich gibt, die gesellschaftliche und geschichtliche Vermittlung ausschließt? Man kann es nicht wissen. Was man jedoch wissen kann, ist dies: In der dialektischen Philosophie - im speziellen in der Hegels - schließen sich Vermittlung und Unmittelbarkeit sich keineswegs aus. (s. dazu Eva Bockenheimer: Unmittelbarkeit und Vermittlung).

So kann man etwa jede Bewegung als eine Vermittlung von Anfang und Ende in einem Prozess auffassen. Da jede Bewegung - auch wieder einer der merkwürdigen naturdialektischen Gedankengänge - zu Ende geht, mithin die Bewegung ihrer eigenen Aufhebung ist, resultiert sie in einer Ruhe, eben in der aufgehobenen Bewegung. Wie die Bewegung - indem sie sich selbst aufhebt - in der Ruhe - wenn auch nicht in der absoluten Ruhe - resultiert, so kann sich auch die Vermittlung aufheben und zu einer Unmittelbarkeit führen, die vermittelt ist. Diese Behauptung einer "vermittelten Unmittelbarkeit" kann man sich am Beispiel eines traditionellen Schlusses klar machen:

Alle Menschen sind Sterblich.

Sokrates ist ein Mensch.

Also ist Sokrates sterblich.

Es ist unerheblich, ob der Schluss der letzte Schrei ist oder nicht; jedenfalls wird hier Sokrates durch die Vermittlung des Begriffs Mensch mit dem Begriff der Sterblichkeit zusammengeschlossen oder vermittelt, und zwar so, dass diese Vermittlung im Schlusssatz verschwunden ist (wie die Bewegung beim Zur-Ruhe-gekommen-Sein verschwunden ist) und zu einem unmittelbaren - wenn auch nicht unvermittelten - Zusammenschluss von Sokrates mit der Sterblichkeit führt. Es dreht sich hier nicht um Originalität, Richtigkeit oder Pfiffigkeit dieses Schlusses, sondern lediglich darum, ob Vermittlung Unmittelbarkeit absolut ausschließt. Zumindest in diesem Beispiel ist dies nicht der Fall ist. (An diesen Überlegungen ändert sich überhaupt nichts, wenn man sie nach den Grundsätzen der modernen Loigik im Anschluss an Frege, Wittgenstein und Russell formuliert.) Vielleicht lohnt es sich, auch bei anderen unmittelbaren Darstellungsformen zu durchdenken, ob sie als vermittelt betrachtet werden können und sogar gedacht werden müssen.

Wie steht es nun mit der sozialen Bedingtheit der Erkenntnis? Es liegt schon im Begriff der Erkenntnis, dass sie eine geschichtlicher und damit ein gesellschaftlich vielfach vermittelter Prozess ist. Was kann also mit der Bemerkung gemeint sein, die Engels in Bezug auf "die einfache Anschauung der Natur, wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat" macht? Um sich das verständlich zu machen, kann man sich eine Frage stellen: Sind die gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse den natürlichen Gegenständen angemessener als etwa die Vorstellung, dass im Blitz das Wirken eines Gottes zum Ausdruck kommt? Ich würde diese Frage bejahen. Dennoch würde ich zugleich behaupten, dass diese gegenwärtige naturwissenschaftliche Erkenntnis geschichtlich vermittelt ist, ja dass sie ohne die Geschichte und die Industrie des Kapitalismus nicht vorhanden wäre. Dass also die Naturerkenntnis vermittelt ist, bedeutet nicht, dass sie daher mit unserer Zutat erkannt wird, sondern umgekehrt, dass wir in der Lage sind, mehr und mehr die Objekte selbst zu erkennen. Um das nachzuvollziehen, ist es vielleicht nützlich, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob Lenin - wie Ingo Elbe behauptet - einem "naiven Realismus" das Wort redet. Danach verstehen wir vielleicht besser, wie man auf die Idee kommen kann, dass durch den wissenschaftlichen Fortschritt und die entsprechende vermittelnde Bewegung Gegenstände unmittelbar erkannt werden können, ohne "fremde Zutat". Denn dann werden wir denken können, wenn wir das denken wollen, dass die vermittelnden Formen wissenschaftlichen Erkennens es uns erlauben, die Gegenstände möglichst als solche - ohne Zutaten zu erkennen, während das Fehlen naturwissenschaftlicher Erkenntnisformen im Gegenteil - nach unserem gegenwärtigen Erkenntnisstand - solche Zutaten in der Erkenntnis mit sich bringen. (Das schließt nicht aus, sondern im Gegenteil ein, dass spätere Generationen die Gegenstände angemessener werden erkennen können als wir das tun. Geymonat nannte diese Entwicklungsform naturwissenschaftlicher Erkenntnis "Vertiefung", in der die gegenwärtige Auffassung der Natur als ein Sonderfall einer allgemeineren Auffassung betrachtet wird, ähnlich wie die Euklidische Geometrie als ein Sonderfall des Riemannschen Raumes betrachtet werden kann.

Ein gutes Beispiel für einen solchen Gedanken bietet in der Tat die Lenin'sche Widerspiegelungstheorie. Gerade das oft geschmähte Bild der Erkenntnis als einer "Fotokopie" des zu erkennenden Gegenstandes kann man durchaus darauf hin durchdenken. Zunächst ist in diesem Bild die Einbettung in die industrielle Entwicklung enthalten gedacht, ebenso die praktische gesellschaftliche Vermittlung. Denn Fotokopieren ist ein Vorgang, der gesellschaftlich vermittelt ist, der eingebettet ist in die industrielle Entwicklung. Lenin nutzt ein bestimmtes - nämlich das gegenwärtige - Niveau dieser Entwicklung, um es als fähig zu bezeichnen, ein Bild für objektgemäße Erkenntnis zu bieten. Nach Lenin ist es eine subjektive Fähigkeit, die erarbeitet werden muss, eine objektgemäße Erkenntnis - im Bild ausgedrückt eine Fotokopie - zu erreichen. Eine solche Fähigkeit haben die Menschen nicht unmittelbar oder von NAtur aus. Sie ist geschichtlich vermittelt. Aber diese Vermittlung ist verschwunden: In der Fotokopie sehen wir nicht den Kopierer, sondern nur im Idealfall nur eine Kopie des kopierten Gegenstandes, und je besser die Kopie, desto weniger sehen wir vom Kopierer. Das bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass es keines Kopierers bedürfte, um eine Fotokopie herzustellen. Es bedeutet lediglich, dass der Kopierer sich beim Anblick des Bildes nicht störend bemerkbar macht. Das subjektive Moment der Erkenntnis ist also die zunehmende Fähigkeit zur objektgemäßen Erkenntnis, wenn man dieses Bild übertragen will. Es kommt also auf das Subjekt der Erkenntnis durchaus an, wenn es nach der Widerspiegeltungstheorie geht. Denn - wenn man Paradoxe liebt, könnte man formulieren: Je subjektiv fähiger der gesellschaftlich und geschichtlich vermittelte Erkenntnis"akt" des erkennenden Subjekts ist, desto weniger merkt man in der Erkenntnis selbst von dieser geschichtlichen und gesellschaftlichen Vermittlung.

Aber was hat es mit dem Bild auf sich. Wollen denn Engels und Lenin tatsächlich behaupten, dass das Denken in Bildern vor sich geht oder dergleichen? Und was hat es mit der Passivität des Abbildes von den Gegenständen in unserem Bewusstsein auf sich? Wenn man vom Denken auf eine materialistische Weise sprechen will, in der man das Denken nicht einfach als in sich selbst das eigentlich Reale auffassen will, dann muss man das Denken als etwas auffassen, was auf ein Anderes verweist. Das gilt sowohl subjektiv für den Denkenden: Nach Marx ist es - wie bei Feuerbach und Engels - so, dass es die Menschen sind, die denken, also etwa nicht das Denken, das Bewusstsein oder nicht das Subjekt oder dergleichen. Das Bewusstsein ist das Bewusstsein der Menschen, und so wie sie sind, so ist auch ihr Bewusstsein, oder so denken sie auch. Das Bewusstsein verweist aber auch auf einen Gegenstand, dessen sich die Menschen bewusst sind. Denn ohne Gegenstand kein Bewusstsein von etwas, und ohne Bewusstsein von etwas kein Bewusstsein. In der Widerspiegelungstheorie gilt der Spiegel als ein Bild des Bewusstseins; wie der Spiegel eines Gegenstandes bedarf, der als Spiegel dient, etwa ein Glasspiegel, wie er im Badezimmer hängt, oder ein See, der die Landschaft um ihn herum spiegelt, so bedarf das Bewusstsein eines materiellen Trägers, hier des Menschen. Je besser der Spiegel, je glatter der See, desto genauer sieht man, was er abbildet. Indem der Prozess der Spiegelung zugleich als ein Bild für das Bewusstsein genommen wird, ist es möglich, den Abbildungsprozess mitabzubilden, obwohl er in dem Bild selbst verschwunden ist und nicht zu sehen ist. Das Abbilden (als ein natürlicher - d.h. in sich bewegter - Prozess) ist ein Bild für das Denken. Wenn man nicht vom Denken als absolut sicherem Fundament ausgehen will, d.h. materialistisch bleiben will, und zugleich vom Denken sprechen will, dann ist das Denken wie ein Sprechen, wie ein Handeln, wie ein Spielen etc. Wir benutzen Bilder, oder besser gesagt, wir müssen Bilder benutzen, um vom Denken sprechen zu können, wenn wir es nicht selbst absolut setzen wollen. Diese Notwendigkeit, in Bildern über das Denken sprechen zu müssen, nimmt die Abbildtheorie zum Ausgangspunkt der theoretischen Überlegungen über das Denken. Wenn man schon in Bildern vom Denken sprechen muss, warum nicht diese Notwendigkeit zum Ausgangspunkt des Sprechens über das Denken machen? Wer das tut, nutzt die Abbildtheorie des Denkens.

Das Bewusstsein als Spiegel aufzufassen, ist keineswegs eine Spezialität des Marxismus; das hat auch Leibniz schon getan. Da er aber als Idealist das Bewusstsein als das Wesentliche aufgefasst hat, kam er in ein Problem, das auch Ingo Elbe dem Marxismus als Problem anhängen will. Leibniz war nicht damit zufrieden, dass der Spiegel "bloß" abbildet. Er wollte dem Spiegel Subjektivität, Aktivität sichern und sprach deswegen von einem "lebendigen Spiegel". Der lebendige Spiegel sollte die Aktivität sichern, die Ingo Elbe offenbar vermisst, wenn er von der Passivität der engels'schen Widerspiegelungstheorie spricht. Dieses Problem der Passivität ergibt sich aus marxistischer Sicht daraus, dass man das, was sich im Spiegel zeigt, mit der materiellen Gegenstand identifiziert, der als Spiegel dient. Diese Identifikation steht - im traditionellen MArxismus - im Verdacht des Idelaismus. Nicht der Spiegel ist lebend, wie bei Leibniz, sondern der Gegenstand, der als Spiegel dient, hier die Menschen, um deren Bewusstsein es sich handelt. Nicht das Bewusstsein ist aktiv, sondern die Menschen, um deren Bewusstsein es sich handelt, sind aktiv.

Der Eindruck der Passivität des Abbildens ergibt sich also aus drei Gründen:

1. Nicht das Bewusstsein ist aktiv, sondern die Menschen sind es. 
2. Die theoretische Aktivität ist eine Aktivität bloß im Bild, also 
   eine Abbildung der wirklichen Aktivitäten der Menschen. 
3. Die idelle, spiegelbildliche Aktivität hebt sich selbst als Vermittlung 
   des unmittelbaren Abbildes des zu erkennendnen GBegenstandes auf. 
4. Sie kann aber in einer (äußerlichen) Reflexion mitabgebildet werden und 
   kann daher vermisst werden. (Zumeist gescieht dies in metatheoretischen 
   Erörterungen.) Dann entsteht der Einduruck der Pasivität. 


Das alles muss man selbstverständlich nicht mitmachen. Man kann diesen Ansatz verwerfen. Aber selbst wenn man ihn verwirft, dann könnte man ihm trotzdem einen Sinn abzugewinnen versuchen. Diese Bemühung ist nicht zu erkennen, wenn man diesen Ansatz als "naiven Realismus" charakterisiert. Es besteht die Gefahr, dass man sein eigenes Unverständnis zum Maßstab der Kritik an Positionen anderer macht. Es besteht die Gefahr, dass man selbst naiv war, als man glaubte, dass es sich um "naiven Realismus" handele. Mit dieser Gefahr hat sich Ingo Elbe für meinen Geschmack zu wenig auseinandergesetzt.

Weiter im Text

(Um den Text technisch leichter bearbeiten zu können und handhabbar zu machen, ist die Fortsetzung auf einer nächsten Seite hilfreich.)

Der angebliche ontologische Determinismus