Texte:Produktivkraft sexualitaet5
Inhaltsverzeichnis
Produktivkraft Sexualität
von Uschi Siemens
V. Herbert Otto: "Der Traum vom Elch"
Herbert Otto gehört zu der Schriftsteller-Generation der DDR, die Faschismus und Weltkrieg noch selbst miterlebt hat. 1925 in einer Arbeiterfamilie geboren, war der Autor jahrelang Soldat der Nazi-Wehrmacht, bevor er nach mehreren Jahren in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und dem Besuch der Antifa-Zentralschule in Moskau 1949 in die DDR zurückkehrt. Als Schriftsteller und Funktionär des Schriftstellerverband der DDR bemüht er sich, den literarischen Anforderungen des sozialistischen Realismus gerecht zu werden: seine Romane spielen alle in der materiellen Produktion, auf Großbaustellen werden die Probleme des Aufbaus der DDR illustriert; seine stets männlichen, eigensinnigen und oft etwas anarchistischen Helden werden durch das Arbeitskollektiv und Frauenliebe gezähmt und in die Gesellschaft integriert. In seinem 1983 erschienenen Roman "Der Traum vom Elch"[1] wendet er sich dagegen einem Phänomen zu, das besonders in der Prosa der jungen Autorinnen und Autoren seit Mitte der siebziger Jahre eine zunehmende Rolle spielt: die "Sezession"[2] oder das Leben in der gesellschaftlichen Nische. Der erst 1987 in der Bundesrepublik erschienene Roman wird von der westlichen Kritik als "der erotische Gesellschaftsroman der DDR"[3] eingeschätzt, während die DDR-Rezensenten den "exponierten Stellenwert des Sexuellen"[4] im Roman eher "peinlich" und "geschmacklos" finden.
1. Außenseiter und Nischen-Existenz
Im "Traum vom Elch" konzentriert sich Herbert Otto auf das Beziehungsgeflecht im Privatleben seiner Figuren, die fast alle außerhalb der materiellen Produktion und des "öffentlichen Alltags"[5] stehen. Anna Guttmann, eine geschiedene, kinderlose Frau Ende Zwanzig, hat ihren Beruf als Lehrausbilderin für Ingenieure in einem Motorenwerk vor drei Jahren verloren, weil sie gegen das sexistische Verhalten ihres technischen Direktors auf einem Betriebsfest öffentlich protestierte. Sie arbeitet seither als Krankenschwester in einer Klinik, nebenbei kellnert sie aushilfsweise in "Karlchens Cafe". Anna ist "schön wie eine Fee"[6], rothaarig, grünäugig, mit Sommersprossen und einer attraktiven Figur. Ähnlich märchenhaft ist ihre Beziehung zu einem jungen Mann namens Markus, den sie Elch nennt und dem der Roman seinen Titel verdankt. Elch besucht - einem Kometen gleich - Anna nur zweimal im Jahr, immer im Mai und November für ein paar Tage, bringt ihr höchste sexuelle Erfüllung und verschwindet dann wieder. Und obwohl Anna fast nichts von ihm weiß, bestimmt er doch ihr ganzes Leben. Nicht so klar gezeichnet und mehr im Hintergrund bleibt Annas gleichaltrige Freundin Annette. Annette ist alleinerziehende Mutter eines siebenjährigen Sohnes und arbeitet im Schichtdienst in der Gütekontrolle eines nicht näher charakterisierten Betriebes. Ähnlich wie Laura Salman sucht Annette nach einem Vaterersatz für ihren Sohn; sie ist liiert mit einem verheirateten Bauarbeiter, der nur dann bei ihr wohnt, wenn er nicht - was meistens der Fall ist - auf Montage im Ausland ist. Daneben hat Annette seit einem Jahr eine Beziehung zu Ludwig, einem Maler.
Die Darstellung Ludwigs erinnert an landläufige Klischees vom Künstlerdasein: Er wird als sensibel und kreativ, spielerisch und schwebend geschildert; er trinkt zu viel, ist geschieden und hat nicht selten mehrere Freundinnen gleichzeitig. Ludwig ist ein Künstler und "bunter Vogel", "ein zufriedener, nimmermüder Verrückter, Figurenmacher" (28), der am Rande der Stadt auf einem Hügel ein Stückchen Land mit einer Mühle gepachtet hat. Er hat eine "tiefe Abneigung gegen das Übliche" (46), er weigert sich, seine Kunst in den Dienst von Gesellschaft oder Partei zu stellen, weil er sich "den Luxus einer eigenen Meinung" leisten können will. Und auch der schüchterne Christoph gehört als Nebenfigur zu dieser Gruppe von Menschen, die sich am Rand der DDR-Gesellschaft eingerichtet haben. Christoph ist von Beruf Elektronikingenieur, hat aber seinen Beruf aufgegeben und arbeitet als Hilfsgärtner auf dem Friedhof, weil ihm "das Gefühl von Freisein" (4) wichtiger ist als Geld und materieller Besitz.
Die Gegenwelt der offiziellen DDR-Gesellschaft repräsentiert Stefan Schallhammer, zweiundvierzigjähriger Funktionär und Direktor eines Kombinats für Werkzeugmaschinen. Stefan ist der Sympathieträger des Romans: belastet von seiner Verantwortung, den Plan zu erfüllen, Verträge mit dem Ausland auszuhandeln, den ständig steigenden Energiebedarf der DDR zu sichern und dabei gleichzeitig den einzelnen Menschen mit seinen Eigenarten und Bedürfnissen nicht aus den Augen zu verlieren. Stefan ist mit Barbara verheiratet und hat zwei fast erwachsene Kinder. Seine Arbeit, die mit vielen Dienstreisen ins östliche und westliche Ausland verbunden ist, lässt ihm nicht viel Zeit für sein Familienleben; seine Gesundheit ist angeschlagen. Der Anspannung seiner Arbeit und einem ersten Herzversagen vor zwei Jahren versucht er, mit autogenem Training zu begegnen. Mit Ludwig verbindet ihn seit ihrer Jugend eine enge Freundschaft, die ihm den Blick für andere Lebensformen als seine eigene offengehalten hat. Er beneidet Ludwig um die Leichtigkeit und Ungebundenheit seines Daseins, während Ludwig ihm vorwirft, er habe sich "sein Leben abschwatzen lassen gegen Macht oder die Einbildung von Macht und hohem Einfluß" (33).
2. Die individuelle Umkehrung der Verhältnisse
In der DDR gab es keine vergleichbare Frauen- und Emanzipationsbewegung, die wie im Westen das Problem patriarchaler Frauendiskriminierung ins gesellschaftliche Bewusstsein transportierte. Darstellung und Diskussion dieses Problems fand hauptsächlich in der Literatur statt. Dort lassen sich seit Beginn der siebziger Jahre "auffällige Veränderungen in der Thematisierung des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern"[7] feststellen, weil Differenzen im Entwicklungsprozess von Männern und Frauen immer deutlicher werden. Die Veränderungen, die sich durch die ökonomische Gleichberechtigung im Leben der Frauen ergeben haben, wirken sich ganz entscheidend auf ihr Verhalten, ihr Denken und Empfinden aus; Frauen stellen männliche Werte, Lebensformen und Maßstäbe in Frage, zwischenmenschliche Beziehungen werden zum Konfliktbereich, weil neue Ansprüche an die Männer gestellt werden. Staat und Regierung haben zwar die Grundlagen für die ökonomische Gleichberechtigung der Frauen geschaffen, überlassen aber die "weitere Realisierung von Gleichberechtigung und Emanzipation (...) dem einzelnen Individuum, der einzelnen Frau". Die Durchsetzung von Emanzipation, der "individuelle Befreiungsprozeß" wird damit "aus dem öffentlichen Leben" ausgeklammert und zu "einem privaten Vorgang"[8]. Nur in der Literatur wird die öffentliche Auseinandersetzung über Ehe und Partnerschaft gefordert und geführt.[9] Wie Irmtraud Morgner, die in ihrem Roman bei Strafe des Untergangs der DDR vehement eine gesellschaftliche Lösung einfordert, beschäftigt sich auch Herbert Otto in seinem Roman mit den Möglichkeiten individueller Lösungen, allerdings mit einer anderen Zielsetzung.
Die Freundinnen Anna und Annette sind sich der Herrschaftsmechanismen in Beruf und Partnerbeziehungen durchaus bewusst. Sie sind beide mit Männern liiert, die aus beruflichen Gründen nur zeitweise anwesend sind. Im "Spielraum dazwischen" (14) versuchen sie, ihr Programm, "die Herrschaft der Weiber" (181) zu realisieren. Sie wollen die "gültigen Regeln" (9) umkehren und aus der den Frauen verordneten passiven Rolle ausbrechen; "Gewohntes umkehren, benutzen, statt selber nur benutzt zu werden, Gebrauch machen" (70). Sie wollen ihre sexuellen Bedürfnisse ausleben können mit Männern, die ihnen gefallen und auf die sie Lust haben, ohne sich binden zu müssen; sie wollen "Begehrlichkeit wecken und wieder zu Staub machen" (13) können, ohne Verpflichtungen einzugehen. Den ersten Schritt zur Realisierung dieses Programms inszeniert der Autor als ein Spiel: Eine Mischung aus "etwas Rache, Spaß und Zeitvertreib" (9). Annette und Anna geben eine Kontaktanzeige auf. Mit dem "Besichtigen der Freier" (10), die ihnen interessant oder passend erscheinen, beginnt am Nikolaustag in einem Café der Stadt die Handlung des Romans. Dabei geben die Freundinnen sich selbst zunächst nicht zu erkennen, sie wollen aus dem "Hinterhalt" selber wählen "statt ausgewählt zu werden" (9), ihre Absichten bleiben für die ausgewählten Männer unbestimmt. Aus dem "Spiel" wird jedoch beunruhigender, für Annette sogar tödlicher Ernst, als die Frauen ernsthaft versuchen, ihre Ansprüche in wirklichen Beziehungen zu realisieren.
Die Betonung des Spiel- und Spaßcharakters ist für den Autor wichtig, weil er zwar "für eine schöne, normale weibliche Selbstverwirklichung" eintritt, sich aber entschieden gegen die entstellende "Männerfeindlichkeit der emanzipatorischen Frauenbewegung"[10] wendet. Mit der Gleichsetzung von Emanzipation und "Männerfeindlichkeit" banalisiert Herbert Otto die Konflikte zwischen den Geschlechtern, die sich aus dem Prozess gesellschaftlicher und beruflicher Gleichberechtigung ergeben haben; der Spiel- und Spaßcharakter karikiert den Versuch seiner Protagonistinnen, sich auf diese Art mit den Strukturen der Männerherrschaft auseinander zu setzen.
2.1 Die "männerfressende" Annette
Annette verbindet mit dem "Spiel" der Kontaktanzeige uneingestanden eine "winzige Hoffnung" (9) auf eine langfristige Partnerschaft. Sie ist unzufrieden mit der Beziehung zu ihrem "Mann auf Zeit", für den sie nur die "Zweitfrau" (134) ist und der immer nur vorübergehend anwesend ist, für den sie aber ihre ganze Zeit und eigene Lebensgestaltung opfert, wenn er anwesend ist. Ebenso leidet sie unter der Tatsache, dass ihr Sohn häufig bei der Großmutter leben muss, weil sie selbst im Schichtdienst arbeitet. Sie sucht nach einem Partner, mit dem sie die Alltagsorganisation und die Verantwortung für ihr Kind teilen kann, jemanden "mit Ausdauer und starker Willenskraft" (135). Annette findet in sich selbst nicht den Halt, um der Verunsicherung zu begegnen, die mit dem Leben in der gesellschaftlichen Nische verbunden ist und sucht diesen Halt bei einem Mann.
Ganz im Gegensatz zu Ludwig und Stefan, die aus ihrem Beruf Lebensinhalt und Lebenssinn ableiten, arbeiten Annette und Anna in Berufen, die ihnen weder persönliche Erfüllung noch gesellschaftliche Anerkennung geben. Selbstbestätigung lässt sich nur noch im Bereich der persönlichen Beziehungen finden. Damit rücken Weiblichkeit und sexuelle Attraktivität stärker in den Mittelpunkt. Das Leben am Rande der Gesellschaft verunsichert und kostet Kraft und auch in der gesellschaftlichen Nische gelten männliche Normen. Wie schon Günter de Bruyn mit Fräulein Broder und Anita Paschke zwischen einer "sauberen" und "dunklen" Form von Sexualität unterschieden hatte,11 stellt auch Annette im Roman die Negativfolie zu Anna dar. Annette ist nach der Geburt ihres Sohnes nicht mehr so hübsch wie Anna, sie "hat manches an sich auszusetzen" (47). Sie ist nur der "Trostpreis", den Ludwig beim Würfeln gewinnt, als die Männer unter sich aushandeln, wer welche Frau bekommt. Sie ist, was ihre sexuellen Interessen und Ansprüche an Beziehungen angeht, fordernder als Anna und sieht in Zärtlichkeiten zwischen Frauen durchaus eine Alternative zu heterosexuellen Beziehungen. Aus der männlichen Perspektive gesehen wird sie zur kräftezehrenden Bedrohung: Ludwig möchte, dass Stefan ihm Annette "abnimmt", weil sie "aus ihrer Erfahrung zuwenig gewonnen" hat, sie ist nicht zurückhaltend genug, hat kein "Gefühl für Augenblicke" (122). Stefan erlebt Annettes Sinnlichkeit als bedrohlich: "Der genaue Druck ihres Unterleibs gegen seinen war fachmännisch. Diesem Typ Frau war er schon begegnet. Mehr als den kleinen Finger lassen sie dir nicht" (35). Der Psychologe, der sich auf die Kontaktanzeige gemeldet hat und den Annette nach der Trennung von Ludwig auswählt, "krempelt sie durch und durch um" (158) und steigert ihre Verunsicherung. Annette begeht Selbstmord, eine Entscheidung, die nach eigenem Eingeständnis des Autors nicht ausreichend motiviert ist12. Eine Erklärung könnte in Annettes Erkenntnis liegen, dass die völlig auf ihre Arbeit fixierten Männer Ehefrauen oder Freundinnen brauchen (und haben), die ihre Männer unterstützen. Eine Umkehrung dieses Verhältnisses - Männer, die Frauen in Lebensalltag und Beziehung unterstützen - ist aber nicht durchsetzbar.
2.2. Traumfrau Anna
Vor dem Hintergrund der als unverhüllt und triebhaft dargestellten Sinnlichkeit Annettes kann sich Annas kindlich-unschuldige Erotik und Sexualität positiv abheben. Anna verkörpert eine Kindfrau, alles an ihr ist "schön klein" (49). Sie hat sich ihre weibliche und sexuelle Integrität auf wunderbare Weise erhalten, trotz eines strengen Vaters, der ihr den ersten Freund verbieten wollte und der die Familie wegen einer jüngeren Frau verlassen hat; trotz eines grundlos eifersüchtigen Ehemanns und trotz der sexuellen Belästigung ihres Betriebsdirektors, der seine Macht dazu nutzt, Anna aus ihrem mit Freude ausgeübten Beruf zu entfernen. Mehrfach im Roman wird darauf hingewiesen, dass Anna "wirkt wie ein Kind"13, eine Frau also, die keine Kraft von Männern abzieht, sondern selbst zur Kraftquelle für Männer wird. Bei Stefan "legt sie alle erdenklichen Reserven frei"14 und Ludwig inspiriert sie dazu, endlich wieder ein Ölgemälde zu malen.
Diese kindliche sexuelle Unschuld braucht der Autor, um die erotischen Szenen mit Anna nicht ins Peinliche oder gar Pornografische abrutschen zu lassen: so wirkt Anna bei ihrem Auftritt im lebenden Bild auf der Weihnachtsparty als barbusige Maria mit dem Kind trotzdem "heiter und würdevoll", "mütterlich und mädchenhaft" (42), beim Liebesakt mit dem schlafenden Stefan wie eine "schöne Königin" (69) und beim Modellstehen für Ludwig in hochhackigen Stiefeln "schön verworfen" (118). Annas Kindlichkeit und Unschuld dienen aber auch als Begründung dafür, dass sowohl Ludwig als auch Stefan sich in Anna verlieben und Beschützerinstinkte entwickeln können. Dennoch gerät selbst Anna bei ihrem Versuch, die Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse individuell in realen Beziehungen durchzusetzen, in eine tiefe Krise.
3. Traum und Wirklichkeit
3. 1 Der Traum vom Elch
Der Elch in Annas Leben ist gleichzeitig reale Figur und Projektion des Ideals eines vollkommenen Geliebten; er steht für Ungebundenheit, Freiheit und Unberechenbarkeit. Anna hat ihn kennen- und lieben gelernt, als er nach einem Autounfall schwer verletzt in das Krankenhaus eingeliefert wurde, in dem sie arbeitet. Sie liebt ihn, weil er "schön anzusehen" ist, ein Einzelgänger, der seine Freiheit liebt und scheu ist, die absolute Ausnahme. Sein sozialer und beruflicher Status bleibt ungeklärt; dass er im Schlaf spanisch spricht, dass der einzige Brief, den er Anna geschrieben hat, auf einer spanischen Schreibmaschine getippt ist und die Andenken, die er Anna mitbringt, lassen darauf schließen, dass er sich viel im Ausland aufhält.15 Er ist stolz, immer ehrlich und redlich, liebt die Natur und das Ursprüngliche. Er hat wenig Zeit, kommt nur zweimal im Jahr für höchstens zehn Tage; wenn er überraschend auftaucht, wartet er nicht lange. Er gibt zwischendurch keine Zeichen und ist für Anna nicht erreichbar. Es existiert kein Foto von ihm und entsprechend diffus ist seine Beschreibung: er ist im gleichen Alter wie Anna, ein großer junger Mann, der häufig sein Aussehen verändert.
Der Elch ist die Personifikation eines vollkommenen Menschen und Kommunisten: Seine Standpunkte sind deutlich und fest, ohne Umschweife, er sorgt sich um die politische Entwicklung, hat Angst, dass die Partei "zuwenig beunruhigt, zuwenig wachsam, schlafmützig" (184) sei; andererseits muss der Sozialismus "Spaß" machen, was "keinen Spaß macht am Sozialismus, stimmt nicht und ist unfertig" (153). Von ihm hat Anna ihre hohen moralischen Ansprüche, mit denen sie sich und andere Menschen misst; er ist vor allem der Maßstab, den sie an andere Männer anlegt. Besonders in der Sexualität erlebt Anna mit dem Elch und durch ihn die energiespendende und belebende Wirkung der Produktivkraft Sexualität im Sinne Irmtraud Morgners: Er öffnet ihre Sinne, "beflügelt ungeheuerlich", er vermittelt Anna "gesteigerte Lust auf Leben" (171), er vermittelt ihr ein erotisches Verhältnis zur Welt.
Die Kehrseite dieser märchenhaften Beziehung: Annas Rolle darin ist rein passiv und geht bis zur Selbstaufgabe. Da sie das bisherige "Zentrum" (97) ihres Lebens, die Arbeit als Lehrlingsausbilderin, verloren hat, wird der abwesende Mann zum Zentrum ihres Lebens, um das ihr gesamtes Denken und Handeln kreist. Bereits Wochen vor seinem erwarteten Erscheinen beginnt sie mit Vorbereitungen: Sie übernimmt zusätzliche Dienste im Krankenhaus, um "viele freie Tage anzusammeln für ihn" (7); sie hinterlässt überall Nachrichten, wo sie sich aufhält, damit er sie finden kann; sie geht schließlich gar nicht mehr aus dem Haus, um seine Ankunft nicht zu verpassen. Fordert er sie auf, sich mit ihm an einem bestimmten Ort zu treffen, reist sie durch die ganze Republik, um ihn zu treffen. Ihre Pläne für die Zeiten des Zusammenseins werden hinfällig, weil er andere hat. Sie kauft sich neue Sachen, um schön zu sein für ihn; Wochen vor seinem vermuteten Erscheinen nimmt sie die Anti-Baby-Pille, damit ihre Brüste größer werden und sie jederzeit sexuell verfügbar ist. Sie will "ihm Freude machen" (19), auch durch die Bewahrung der Kindhaftigkeit, die der Elch offenbar an ihr liebt: er schenkt ihr Nachthemden mit Blümchen und "hat es gern, wenn sie zwei Zöpfe (...) mit rosa Schleifen" (278) trägt.
Die Fixierung auf den Elch bedeutet auch die Aufgabe einer eigenen Weltsicht: Er "hat sie viel gelehrt" (171) und sie hat begonnen, die Welt "mit seinem Blick" (46) zu sehen. Sie bewundert sein "sicheres Verhältnis zu sich selbst" (182), weil sie selbst unsicher ist und an mangelndem Selbstgefühl leidet.
Da Anna den Elch nicht erreichen kann, besteht ihr Leben zum großen Teil aus Warten. Ihre Kommunikation in den Zeiten seiner Abwesenheit beschränkt sich auf Briefe, die sie ihm ins Wäschefach schreibt und die er nie zu sehen bekommt. Kann der Elch - selbstverständlich ohne Erläuterung von Gründen - nicht kommen oder verpasst Anna ihn wie zu Beginn des Romans, als die katastrophalen Schneeverhältnisse im Winter 1978 ihre Reise nach Freiberg in Sachsen verhindern, verfällt Anna in eine "erotische Depression" (257). Das lange Warten auf ihn macht sie müde und kraftlos. Das Festhalten an diesem idealen Traummann macht Anna beziehungsunfähig;16 sie kann sich auf andere Männer nicht einstellen, sie "will nichts, was länger als eine Nacht dauert" (66).
3.2 Stefan und die Realität
Ist die Beziehung zum Elch durch Passivität und Anpassung an seine Bedürfnisse gekennzeichnet, entwickelt sich die Beziehung zu Stefan unter entgegengesetztem Vorzeichen: hier übernimmt Anna von Anfang an die Initiative. Mit "Vorsatz und Vergnügen hatte sie ihn herausgefordert" (63), zunächst mit ihrem erotischen Auftritt als barbusige Maria auf der Weihnachtsparty, beim Tanzen, wo sie seine Erektion spürt, dann mit einem durchsichtigen Nachthemd in Ludwigs Mühle. Als Stefan diese Herausforderung annehmen und mit Anna schlafen will, entzieht sie sich ihm; erst als er sich, ihren Willen respektierend, in autogenen Schlaf versenkt, vollzieht Anna mit dem schlafenden Mann scheinbar heimlich und unbemerkt den Liebesakt.17 Dabei genießt sie besonders, dass "nur sie entschied, was geschehen sollte" (67), eine offenbar zunächst befriedigende und wünschenswerte Alternative zu ihrer Beziehung mit dem Elch. Als Anna, traurig und geschwächt vom Selbstmord ihrer Freundin und dem langen Ausbleiben des Elchs, Stefans Angebot annimmt, sich mit ihm zu treffen, ergreift sie die Initiative: Draußen in der Natur entkleidet sie sich zum sonnenbaden und lädt Stefan ein, mit ihr zu schlafen, diesmal in beiderseitigem Wach- und Bewusstsein. Nach dieser sexuellen Erfahrung, die ihr neue Lebens- und Entschlusskraft gegeben hat, ist es wiederum Anna, die Stefan einlädt, sie in ihrem Urlaubsort für ein Wochenende zu besuchen. Ebenso wird das Ende der Beziehung von Anna entschieden und herbeigeführt.
Stefan reagiert auf Annas Aktivitäten mit Selbstbeherrschung. Egal, wie oft Anna ihn sexuell herausfordert und dann wieder zurückweist, Stefan bleibt immer sachlich und beherrscht. Seine "Selbstkontrolle ist außerordentlich entwickelt" (66), Beherrschung "zählt längst zu seinen Stärken" (76). Die "scharfe Selbstkontrolle" (162) hat er sich in seinem Beruf angeeignet, beim "Taktieren" (25) mit übergeordneten Ministerien, bei Auseinandersetzungen mit anderen Werksleitern, bei Verhandlungen mit ausländischen Geschäftspartnern. Es gehört zu seinem Alltag, Sachen, Sachverhalte und Menschen zu durchschauen, rasch und zuverlässig Situationen einzuschätzen. Männer wie er "halten das Land zusammen" (122), er kämpft mit militärischer Disziplin gegen bürokratischen Schlendrian, Material- und Energieverschwendung, gegen äußere Naturkatastrophen, aber auch gegen seine eigene Natur. Nachdem er "alle Neigungen diszipliniert" (230) hat, ist ihm der Zugang zu seiner eigenen Sinnlichkeit und Lebendigkeit verloren gegangen.
Stefan fühlt sich alt und verbraucht; seine zwanzigjährige Ehe hat ihren sexuellen Reiz verloren, Barbara ist "zu sehr Mutter", hat "zu viele der selbstzerstörerischen Opfer auch für ihn" (55) gebracht. Er braucht und verliebt sich in Annas Sinnlichkeit und Lebendigkeit, weil sie "das entlegene Depot entdeckt und freigelegt hat" (230), weil sie "Bereiche seines inneren Lebens" anspricht, die schon lange "brachlagen" (223). Mit Anna entdeckt er seine verlorengeglaubte Männlichkeit wieder, sie gibt ihm "neue Frische, die ihn mobil macht" (219).
Die Annäherung zwischen Anna und Stefan verunsichert beide Partner stark. Anna wird mit einer Realität konfrontiert, der sie in der Beziehung mit Elch bisher ausgewichen ist. Stefan ist ein Mann, der es gewöhnt ist, Macht zu haben und auszuüben; Widerspruch nimmt er nicht ernst oder nicht wahr. Er beginnt, sich in Annas Leben einzumischen, weil er der Meinung ist, dass "ihr Leben nicht stimmt" (215). So schickt er seinen Fahrer los, um dafür zu sorgen, dass Annas Wohnung abgedichtet wird und sie eine neue Badewanne erhält; so will er dafür sorgen, dass Anna in einem der Betriebe, für die er verantwortlich ist, wieder Lehrlinge ausbilden kann. Und nicht zuletzt kann er eine seiner zahlreichen Sitzungen als Alibi vorschützen, um sich mit Anna heimlich zu treffen und seine Frau zu betrügen. Sein schlechtes Gewissen seiner Frau gegenüber beruhigt er einerseits mit der "sozialen Interessiertheit" (59) gegenüber Anna, andererseits mit dem Kraftzuwachs, den das Liebesverhältnis für ihn bedeutet und von dem auch seine Frau "Gewinn" haben soll. Dieses Verhalten erinnert Anna an ihren Vater, der früher selbst ein hoher Funktionär war und Vorrechte "ganz selbstverständlich beanspruchte" (101). Annas hohen moralischen Ansprüchen läuft dies zuwider. Sich mit Stefan einzulassen, bedeutet für Anna, sich in eine konkrete Auseinandersetzung um die Gestaltung von Beziehung und Leben zu begeben, Forderungen zu stellen und durchzusetzen. Anna muss sich mit der Frage auseinandersetzen, ob sie die "Zweitfrau" des Kombinatsdirektors Stefan werden will, denn Stefan ist ein "Mann der Familie, Mann und Vater, ausgebrochen, allerdings ohne die Absicht, die vertraute Arena zu verlassen" (230). Sie muss sich auch der Frage stellen, ob sie aus der gesellschaftlichen Nische in das offizielle Arbeitsleben zurückkehren will. Stefan ist der reale Mann, "an dem sie sich prüfen und bestätigen könnte" oder eben "versagen" (182). Dieser Herausforderung will Anna sich nicht stellen. Sie erkennt, dass "einen Mißstand nur umkehren (...) eben wieder einen Mißstand" (181) ergibt, und sieht ein, dass sie mit der bloßen Übernahme männlicher Verhaltensweisen auch ihre sprichwörtliche Unschuld zu verlieren droht.
Für Stefan bedeutet die Trennung von Anna eine Erschütterung seiner Selbstbeherrschung. Er kann und will Annas Entscheidung zunächst nicht akzeptieren. Erst als Anna ihn ausgerechnet mit dem Aussteiger Christian als scheinbarem Konkurrenten konfrontiert, begreift Stefan, dass seiner Macht Grenzen gesetzt sind. Seine bis dahin perfekt geübte Selbstbeherrschung bricht in sich zusammen. Für ihn bedeutet die Trennung von Anna eine Art Tod, wie das letzte Bild von ihm vermittelt: "Man konnte glauben, er sei ohne Bewußtsein oder sogar tot" (273). Anna dagegen hat am Ende des Romans endlich ein Bild vom Elch, dem Mann, dem sie auf der letzten Seite des Romans wie ein Kind entgegenrennt.
Herbert Otto schildert in seinem Roman die Auswirkungen einer gesellschaftlich gewollten und geduldeten Arbeitsteilung. Die im Beruf trainierte Selbstbeherrschung überträgt Stefan auf die Beziehung zu Anna. Seine Selbstbeherrschung eröffnet Anna erst die Möglichkeit, Initiativen zu ergreifen und die Bedingungen zu schaffen, unter denen sie mit Stefan intim werden kann und will. Männliche Selbstbeherrschung wird zur notwendigen Voraussetzung für weibliche Versuche von Selbstverwirklichung in der Sexualität. Umgekehrt eröffnen die ganz auf natürliche, unverbildete Sexualität reduzierten Frauen den Männern die "Möglichkeit des Rückzugs" (252), die "Flucht" in fremde Betten, um die verschütteten Kraftreserven der Männer zu mobilisieren. Der Autor beschränkt sich aber - im Gegensatz zu Irmtraud Morgner - auf eine affirmative Darstellung dieser Arbeitsteilung, ohne sie kritisch zu reflektieren.
3.3 Männerphantasie und Rollenklischees
Autor und Rezensenten des Romans werten Annas Entscheidung für den Elch als Ausdruck ihrer Emanzipation und der Verwirklichung ihrer hohen Ansprüche, weil sie sich nicht begnügen will mit der "kleinen Zufriedenheit" (152), die "Kino, Kinder, neue Gardinen" (152) umfasst. Sie will nicht "zurechtkommen und sich einrichten und gewöhnen" (152), weder an langweiliges Eheleben, Mutterglück, noch an den Status einer heimlichen Geliebten. Dieser Eindruck kommt zustande, weil Herbert Otto seiner Romanfigur nur die Wahl lässt zwischen einer Form von Ehe, in der Sexualität nur Mittel zur Fortpflanzung ist, oder der Rolle als "Nebenfrau" (135) eines verheirateten Funktionärs, so dass ihre Entscheidung für den Traum und die gesellschaftliche Nische nachvollziehbar wird. Bei dieser Wahl bleibt jedoch jede Form von Emanzipation auf der Strecke, denn Annas Wahl für das Besondere bedeutet gleichzeitig den Rückfall in die uralte, tradierte Rolle einer kindhaften, passiven, ganz auf das Zentrum Mann fixierten Frau. Herbert Otto bietet damit eine bequeme Lösung an, die sowohl den Autor wie seine männlichen Figuren der Reflexion und Auseinandersetzung mit einem männlichen Rollenklischee enthebt, das zur Ergänzung der eigenen reduzierten Individualität Frauen benötigt, die auf kindliche Erotik fixiert und ausschließlich auf Männer konzentriert sind.
Herbert Ottos Roman enthält im Vergleich mit den anderen untersuchten Romanen ohne Zweifel die umfassendste und detaillierteste Schilderung von Sexualität und Erotik. Der weibliche Körper wird ausführlich dargestellt, der sexuelle Akt mehrfach beschrieben und selbst das männliche Glied wird mit positiven Begriffen wie "Zumt", "Durchlaucht" oder "Murmeltier" (19) benannt. Dennoch hat die beschriebene Sexualität einen voyeuristischen Charakter. Objekt der sexuellen Beschreibung sind ausschließlich die Frauen: Anna und Annette beim Tanzen, beim gemeinsamen Duschen und gegenseitigen Einseifen der Brüste, Anna bei ihrem heimlichen Orgasmus, Anna vor der gemeinsam-wachen sexuellen Vereinigung mit Stefan, Anna als Nacktmodell bei Ludwig. Dem entspricht die klischeehafte Zuordnung von Geschlechter-Eigenschaften: Natur, Emotionalität, Intuition und Sinnlichkeit auf der Seite der Frauen, Rationalität, Selbstbeherrschung und Kampf auf der Seite der Männer. Diese Unterscheidung wird besonders deutlich bei der Darstellung von Annas heimlichem und dem gemeinsamen Orgasmus beider Figuren. Anna empfindet den sexuellen Akt als etwas Natürliches, "wie es geplant ist von der Natur" (68), sie berührt den schlafenden Mann vorsichtig und zärtlich, der Orgasmus wird verglichen mit einer "Brandung", der sie "entgegenlief, untertauchte, schreiend oder nicht" (69). Auch der gemeinsam erlebte sexuelle Akt findet auf Annas Wunsch in der Natur statt, aus der Sicht Stefans (oder des Erzählers) beschrieben wird er jedoch zum "großen, dauernden Kampf" (193), der mit "Waffen" und "Rüstung" zwischen den "Kämpfenden" ausgetragen wird.
Sexualität ist bei Herbert Otto - wie in allen anderen Romanen auch - Beziehung der Geschlechter aufeinander. Otto ist jedoch der einzige Autor, der gleichgeschlechtliche Sexualität negativ bewertet. Eindeutige Erzählerkommentare weisen darauf hin, dass Frauen nicht "besser wissen, was Frauen gefällt" (47) und dass nur Männerhände einer Frau wirkliche Orgasmen verschaffen können. Mit der Fixierung auf heterosexuelle Beziehungen und der Betonung des Kampfcharakters im intimsten und privatesten Vorgang zwischen Mann und Frau betont Herbert Otto gerade die Existenz des Problems von Herrschaft in den Geschlechterbeziehungen, das er auf der gesellschaftlichen Ebene zu bagatellisieren versucht. Herbert Ottos Roman ist eine Männerphantasie, in der die weibliche Sexualität nicht durch Deformationen belastet ist, in der die Frau eine besondere Affinität zur Natur hat, ihre Sexualität auf natürliche Art und Weise auslebt und damit dem in Welt und Gesellschaft kämpfenden Mann Kraft und Energie zuwachsen lassen kann, darf und soll.
Fußnoten
- ↑ Herbert Otto: Der Traum vom Elch. Roman. Berlin und Weimar 1984. Die Seitenangaben in Klammern im folgenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
- ↑ Vgl. Wolfgang Gabler: Moralintensität und Geschlechterbeziehungen. Zur Prosa-Literatur junger DDR-Autoren in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, in: Weinarer Beiträge 33/1987, Heft 5, S. 731.
- ↑ R. L.: Wie's einmal war. Herbert Ottos Traum vom Elch, Westdeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 278, 29.11.1999.
- ↑ Horst Langer: Entwurf vom Menschen. Herbert Otto: "Der Traum vom Elch", in: Neue Deutsche Literatur 32/1984, Heft 9, S. 237.
- ↑ Wolfgang Gabler: a.a.O., S. 733.
- ↑ Anneliese Löffler:Zeitgeschichte im Liebeskonflikt, in: Berliner Zeitung vom 27.6.1984 (Nr. 150), S. 7.
- ↑ Wolfgang Gabler: Moralintensität und Geschlechterbeziehungen, in: Weimarer Beiträge 33/1987, Heft 5, S. 734.
- ↑ Dorothee Schmitz-Köster:Weibliche Selbstentwürfe und männliche Bilder. Zur Darstellung der Frau in DDR-Romanen der siebziger Jahre. Frankfurt am Main, Bern New York 1983, S. 227 - 283.
- ↑ Vgl. Maxie Wander: Leben wär' eine prima Alternative. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe, Darmstadt und Neuwied 1980, S. 218/219.
- ↑ Dunja Welke: gegen die zu kleinen Ansprühe. Gespräch mit Herbert Otto über "Der Traum vom Elch", in: Positionen 2. Wortmeldungen zur DDR-Literatur, Halle und Leipzig 1986, S. 55.