Texte:Meine Zeit ist mein Leben

Aus club dialektik
Wechseln zu: Navigation, Suche
Meine Zeit ist mein Leben
von Stephan Siemens
Druck Version



Der Text "Meine Zeit ist mein Leben" ist ein Versuch, gewerkschaftlich auf die neuen Formen der Organisation der Arbeit, die so genannten neuen Managementformen zu reagieren. Er stammt aus dem Jahre 1999. In dieser Zeit hatten Betriebsräten der IBM Düsseldorf im Rahmen der "Denkanstöße" der IG Metall eine Broschüre für die Beschäftigten desselben Titels herausgegeben. Für diese Broschüre ist der Text geschrieben. Die Idee selbst verdankte sich einem Beitrag von Stephan Siemens für eine Betriebsräte-Schulung für die IG Metall 1998 in Stuttgart. Wir drucken ihn hier wieder ab, weil wir uns im Rahmen einer Auseinandersetzung mit grundlegenden Veränderungen in der Gegenwart auch mit ihm beschäftigen wollen.


Einleitung

Die neuen Managementformen führen - wie Klaus Peters (in: "Woher weiß ich, was ich selber will"- der Text unmittelbar vor diesem Text in derselben Broschüre) gezeigt hat - zum Phänomen "Arbeiten ohne Ende". So ergibt sich die Frage: Wie können die Individuen, die in einem Unternehmen als Beschäftigte arbeiten, ihrer Arbeitszeit selber eine Grenze setzen?

Man könnte auf die Idee komen: "Ganz einfach! Sie hören auf zu arbeiten. Punkt!" Man würde dann den Unternehmensleitungen naiver Weise glauben, dass sie mit den neuen Managementformen die Freiheit im Unternehmen eingeführt hätten. Das ist aber eine völlige Fehleinschätzung der wirklichen Lage, in die ich, der ich in einem solchen Unternehmen arbeite, versetzt werde. Denn wie Klaus Peters gezeigt hat (in dem eben aufgeführten Aufsatz) wird mein Wille insoern ich ein Beschäftigter eines solchen Unternehmens bin, vom Unternehmenszweck kolonisiert und besetzt. Dadurch wird meine Beschäftigung mit der Frage, was ich, der ich als Beschäftigter in einem solchen Unternehmen fungiere, als Individuum wirklich will, zum Ausgangspunkt betrieblicher Interessenvertretungspolitik. Was ich wirklich will in Bezug auf meine Arbeit herauszufinden, muss ich einerseits selber tun; andereseits brauche ich dazu die Diskussion und die Solidarität der Kolleginnen und Kollegen.


I. Arbeiten ohne Ende

Durch die neuen Managementmethoden sehe ich mich in eine Situation gestellt, in der meine Arbeit kein Ende nehmen will. So ist es in gewisser Weise schon bisher. Ich übernehme dies und das, was ich im guten Falle - den ich den Normalfall zu nennen mir angewöhnt habe - in der geplanten Zeit schaffen könnte. Aber es kommt etwas dazwischen, oder es geht etwas schief. Ich hinke dem Zeitplan hinterher. Ich werde nervös, verliere die erforderliche Ruhe und Geduld. Ein Fehler, der sich gerade dann gerne einschleicht, macht mich noch nervöser. Ich werde den Zeitplan wieder nicht einhalten können. Ich habe mich veralkuliert. Dann ist da noch die elektronische Post, die bearbeitet sein will. Sie enthält oft nebenher zu erledigende Arbeitsanforderungen, z. B. von Kolleginnen und Kollegen, die ich nicht hängen lassen will. Die andere Post gibt es auch noch... Eins kommt zum anderen und hinterher habe ich zum Beispiel drei Überstunden, und weiß eigentlich gar nicht so genau, wofür ich sie verbraucht habe. Ich nehme mir das nicht vor. Ich fange an zu arbeiten und erledige, was gemacht werden muss. Es zeigt sich: Ich komme mit meiner Zeit nicht aus. Es ist nur selten möglich zu sagen: "Jetzt ist Schluss! Ich höre auf!" Entweder fällt mir gar nicht auf, dass ich Überstunden mache, und ich merke es erst hinterher. Oder ich komme nicht auf die Idee, Schluss zu machen. Selbst wenn ich auf die Idee komme, nutzt das oft nichts. Denn es gibt viele Gründe, weiter zu arbeiten. Die Termine stehen und müssen eingehalten werden. Ich will die Kolleginnen und Kollegen nicht allein lassen, zusätzlich unter Druck setzen oder ihnen gar in den Rücken fallen. Ich will den Kunden zufriedensellen und so die Zusammenarbeit für die Zukunft angenehm gestalten oder überhaupt nur sichern. Ich will das in mich gesetzte Vertrauen nicht enttäuschen. Ich will gute Arbeit machen, weil ich auch meine eigenen Maßstäbe erfüllen möchte usw. usf. Oft arbeite ich aus solchen und ähnlichen Gründen weiter, obwohl ich weiß, dass ich eigentlich mit Rücksicht auf meine Gesundheit, auf meine Familie, auf meine eigenen Kraft und überhaupt auf mich selbst aufhören sollte.

Wenn ich das einige Zeit gemacht habe, kriege ich zuhause Schwierigkeiten, Streitereien, weil ich nie da bin. Denen möchte ich aus dem Weg gehen. Da arbeite ich lieber länger. Denn bei der Arbeit habe ich es mit Problemen zu tun, die ich lösen kann. Die Probleme zuhause werden immer unlösbarer, jedenfalls sind sie immer schwierig und oft völlig neu. Im Betrieb dagegen kenne ich die Probleme im Allgemeinen und weiß mit ihnen umzugehen. So ist es mir vielleicht ganz recht, länger bei der Arbeit zu sein, obwohl sich dadurch zuhause die Probleme verschärfen. Freunde, Hobbys und Familie verweisen zunehmend. Umgekehrt vereinsame ich mehr und mehr. Der Erolg bei der Arbeit wird für mein Selbstvertrauen und mein Selbstwertgefühl immer wichtiger. Aber er ist unter solchen Umständen auch immer schwieriger zu erreichen. Man hat sich an meine Leistung gewöhnt.

Je mehr die Probleme zunehmen, desto mehr scheint die Bereitschaft, darüber zu sprechen, abzunehmen. Denn ich bin umgeben von Leute, die "es "schaffen, die "es" hinkriegen, oder die jedenfalls erzählen dass sie "es" schaffen. Nur ich scheine damit Schwierigkeiten zu haben, die Aufgaben zu bewältigen. Höchstens im Einzelgespräch kann ich einräumen, dass ich da Probleme habe. Doch ich muss aufpassen, dass ich mir nicht selber schade. Denn wer Probleme hat, gilt als schwach und wird angegriffen; das Einräumen von Problemen schadet im Gerangel um Projekte, um Einfluss und um die eigene Position im Betrieb und unter den Kolleginnen und Kollegen. Deswegen vertusche ich die Sache am besten. So machen es doch alle, oder jedenfalls viele. Es entsteht ein Klima, in dem die wirkliche Arbeitssiuation gar nicht mehr zur Sprache kommt, weil alle sich nur erzählen, wie toll sie "es" hinkriegen.

Diese Situation gab es schon bisher, als es noch geregelte Arbeitszeiten gab. Diese Regelungen sollen nun - im Rahmen der sogenannten "Vertrauensarbeitszeit" - wegfallen, damit noch mehr gearbeitet wird. Die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit soll und wird verfließen. Wenn die Arbeitszeit nicht mehr geregelt ist, dann muss ich meiner Arbeit selbst ein Maß setzen. Aber die Erfahrungen zeigen, das ich dazu nicht oder in den seltensten Fällen in der Lage bin. Denn um meine Zeit selbst einteilen zu können, müßte ich wissen, was mir gut tut, und was für mich das Richtige ist, und dann entsprechend Handeln können. Aber wie soll ich das wissen? Was ist mein Maßstab? Wer bin ich und welche Form, meine Zeit zu verbringen, ist mir angemessen? Wie kann ich mich mit solchen Fragen auseinandersetzen? Der Satz: "Meine Zeit ist mein Leben!" soll darauf eine Antwort geben. Aber bevor wir diese Antwort betrachten, machen wir einen Umweg, der als der einfachere und vielversprechendere Weg erscheit. Deswegen ist er vielleicht der bisher im Wesentlchen begangene Weg, der überdies politisch sehr erfolgreich war. Denn die Antwort auf die oben gestellten Fragen, scheint ganz einfach zu sein: Meine Zeit gehört mir! Ich möchte aber vorab schon sagen, dass diese Antwort meines Erachtens nicht ausreicht und als einzige Antwort auf die Probleme sogar falsch ist, weil sich in ihr das Problem wiederholt.


II. Meine Zeit gehört mir!